Nur keine Schwerverbrecher Wer gegen Putin kämpft, kommt aus dem Gefängnis frei

AP/tjnj

2.7.2024 - 21:02

Als Kriegsheld nach Hause kehren statt aus dem Gefängnis: Weil der Ukraine die Soldaten ausgehen, wendet sich das Land an seine Gefängnisinsassen. (Symbolbild)
Als Kriegsheld nach Hause kehren statt aus dem Gefängnis: Weil der Ukraine die Soldaten ausgehen, wendet sich das Land an seine Gefängnisinsassen. (Symbolbild)
Bild: Uncredited/Russian Defense Ministry Press Service/AP

Der Ukraine gehen die Soldaten aus. Also wendet sich Kiew einem bislang ungenutzten Potenzial zu: Männern, die im Gefängnis sitzen. Bis zu 5000 Männer könnten so rekrutiert werden.

2.7.2024 - 21:02

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Die Ukraine benötigt dringend mehr Soldaten.
  • In einem neuen Programm sollen Gefängnisinsassen für die Front rekrutiert werden: Wer Militärdienst leistet, erhält im Gegenzug die Freiheit.
  • Über 27'000 Straftäter kommen für das Programm in Frage, Kiew rechnet mit etwa 5000 neuen Rekruten.

In einer ländlichen Strafkolonie im Südosten der Ukraine stehen mehrere Häftlinge vor einem Stacheldrahtzaun und hören einem militärischen Rekrutierer zu, der ihnen ein Angebot macht: Ihr könnt auf Bewährung freikommen, wenn ihr euch dem Kampf gegen die russischen Invasoren anschliesst. 

«Ihr könnt dieses hier beenden und ein neues Leben beginnen», sagt der Mann, der einem Freiwilligen-Angriffsbataillon angehört. «Die Hauptsache ist euer Wille, denn ihr werdet das Mutterland verteidigen. Ihr werdet nicht mit 50 Prozent Erfolg haben, ihr müsst 100 Prozent von euch selbst geben, sogar 150 Prozent.»

Russlands Angriffskrieg dauert bereits mehr als zwei Jahre, und die Ukraine braucht dringend mehr Kräfte auf dem Schlachtfeld. Nun sollen Hunderttausende zusätzliche Männer zum Dienst eingezogen werden, und erstmals wendet sich die Ukraine bei ihrer Rekrutierung auch einem bislang ungenutzten Potenzial zu: inhaftierten Straftätern.

Über 3000 Häftlinge bereits im Militär

Zwar gibt es keine offiziellen Angaben über die Zahl der eingesetzten ukrainischen Soldaten oder Opfer. Aber Kommandeure an der Frontlinie räumen offen ein, dass sie es mit ernsten Personalproblemen zu tun haben, zumal die Russen ihre Truppen in der Ostukraine verstärken und sich schrittweise in Richtung Westen vorschieben.

Mehr als 3000 Häftlinge sind bereits auf Bewährung freigelassen und militärischen Einheiten zugeordnet worden, nachdem das Parlament im Mai diese Art der Rekrutierung im Rahmen eines kontroversen Mobilisierungsgesetzes gebilligt hatte, wie die ukrainische Vizejustizministerin Olena Wysozka der Nachrichtenagentur AP sagte.

Nach Schätzungen des Ministeriums könnten ungefähr 27'000 verurteilte Straftäter für das neue Programm in Frage kommen. Wysozka zufolge ist es für viele potenzielle Anwärter ein treibendes Motiv, «als ein Held nach Hause zurückzukehren anstatt aus dem Gefängnis». 

Chance, etwas für das Land zu tun

Ernest Wolwatsch möchte das Angebot annehmen. Der 27-Jährige wurde wegen Raubes zu zwei Jahren in der Strafkolonie in der Region Dnipropetrowsk verurteilt. Er arbeitet dort in der Küche, füllt Schüsseln mit Essen. 

«Es ist dumm, hier zu sitzen und nichts zu tun», sagt Wolwatsch, der sich nach eigenen Angaben seit dem Beginn des Krieges gewünscht hat, «etwas für die Ukraine zu tun» und die Gelegenheit zu haben, sich beim Militär einzuschreiben. Jetzt habe er eine Chance dafür.

Wachsende Kriegsmüdigkeit in der Ukraine

Wachsende Kriegsmüdigkeit in der Ukraine

Diese Frauen, die hier in der ukrainischen Hauptstadt Kiew demonstrieren, wollen, dass ihre Männer aus dem Krieg nach Hause kommen. So auch die 43-jährige Antonina Danylewytsch. Ihr Ehemann hatte sich im März 2022 kurz nach Kriegsbeginn freiwillig gemeldet. Seitdem hatte er gerade einmal 25 Tage Heimaturlaub. Die beiden Kinder wachsen ohne Vater auf. Und ein Ende des Krieges ist nicht abzusehen.

30.11.2023

Für ukrainische Soldaten im aktiven Dienst gilt für gewöhnlich, dass aus Sicherheitsgründen nur ihr Vorname oder ein Rufname genannt wird. Viele der Insassen in der Strafkolonie baten darum, ebenfalls nur mit Vornamen identifiziert zu werden, um Probleme im Fall ihrer Militärdienste zu vermeiden.

Dazu zählt der 30-jährige Wolodymyr, der in einer Werkstatt des Straflagers Metallbolzen anfertigt. Er will sich, wie er sagt, freiwillig den Streitkräften anschliessen, wenn er seine Strafe in einem Jahr verbüsst hat, aber nicht jetzt, denn unter dem Bewährungsprogramm gebe es keinen Heimaturlaub.

Schwerverbrecher sollen aussortiert werden

Vor einer etwaigen Freilassung werden die Häftlinge befragt und medizinisch untersucht. Und wer wegen Vergewaltigung, anderer sexueller Übergriffe, Mordes an zwei oder mehr Menschen oder Verbrechen gegen die nationale Sicherheit verurteilt worden ist, kommt nicht für das Programm in Frage.

Ukrainische Offizielle sind darauf bedacht, dass zwischen ihrem Angebot und der russischen Rekrutierung von Gefängnisinsassen für die berüchtigte Söldnergruppe Wagner unterschieden wird. Jene Kämpfer seien gewöhnlich in die tödlichsten Schlachten geschleust worden, aber das ukrainische Programm ziele darauf ab, die Freigelassenen in reguläre ukrainische Einheiten an der Frontlinie zu integrieren.

Laut der EU zugeleiteten Regierungsstatistiken sind in der Ukraine etwa 42'000 Menschen inhaftiert. Während jüngste Reformen die Zahl der Insassen reduziert und die Bedingungen in einigen Einrichtungen verbessert haben, gibt es aber weiter Kritik von aussen am Umgang mit manchen Gefangenen. So sprach das US-Aussenministerium in seinem Menschenrechtsbericht 2023 von glaubwürdigen Berichten über «entwürdigende Behandlung oder Bestrafung» durch Gefängnisbehörden.

«Ich werde im Krieg nützlicher sein.»

Wer sich für eine Freilassung auf Bewährung qualifiziert hat, wird rasch in Lager geschickt, wo er den Umgang mit der Waffe und andere wesentliche Kampfgrundlagen lernt. Die Ausbildung wird später, nach der Eingliederung in individuelle Einheiten, ergänzt und abgeschlossen.

Der freigelassene Mychajlo hat einen Angriffskurs absolviert und sagt, dass es schwer gewesen sei, den physischen Anforderungen zu entsprechen – nach Monaten relativer Inaktivität im Gefängnis in  gepanzerte Personentransporter zu klettern und dann wieder heraus und Hindernisparcours zu bewältigen.

«Ich habe mich dafür entschieden, mich in die ukrainische Freiwilligenarmee einzuschreiben, denn ich habe eine Familie daheim, Kinder, Eltern», erzählt der 29-Jährige und muss dabei den Lärm von einem nahe gelegenen Schiessstand übertönen. «Ich werde im Krieg nützlicher sein.»

Vizejustizministerin Wysozka sagt, dass das Interesse am Bewährungsprogramm die Erwartungen übertroffen habe. Es könne bis zu 5000 neue Rekruten bescheren. «Das würde definitiv helfen.»  

AP/tjnj