Lagebild Ukraine Putin greift an, solange Selenskyj noch auf schwere Waffen wartet

Von Philipp Dahm

31.1.2023

Stoltenberg im Interview: «Sicherheit ist global»

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30.01.2023

blue News wagt einen Ausblick auf die kommenden Wochen: Bevor ab März westliche Panzer das Schlachtfeld erreichen, wird Russland in die Offensive gehen. Bachmut steht vor dem Fall.

Von Philipp Dahm

Wolodymyr Selenskyj ist substanzielle Hilfe versprochen worden. Der Westen will der Ukraine Schützenpanzer vom Typ M1 Bradley ODS-SA und Marder liefern – flankiert von Panzern der Typen M1 Abrams, Leopard 2 und Challenger.

Auch wenn bereits Züge voller Bradleys zu sehen waren, die nach Polen gefahren sind, wurden erst jetzt 60 Schützenpanzer für die Ukraine in South Carolina auf Schiffe verladen, die sie angeblich über das Schwarze Meer ins Kriegsgebiet bringen sollen. Bis sie dort ankommen und die Farbe für den Wüsteneinsatz ersetzt ist, wird Zeit vergehen.

Bis Kiew die 31 Abrams aus den USA bekommt, dauert es noch länger. Sie werden wohl erst Ende des Jahres zur Verfügung stehen. Deutlich schneller wird der Challenger im Einsatz sein: Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace sagt, sie würden «wahrscheinlich gegen Ostern» zur Verfügung stehen. Das Fest ist am 9. April.

Neue Verbände mit westlichen Waffen im März?

Doch beim Marder aus Deutschland und dem Leopard 2 sieht es anders aus. Neben Berlin haben auch Polen, Finnland, Spanien und Norwegen angekündigt, den Kampfpanzer zu liefern. Womöglich könnten schon im März entsprechende Verbände aufgestellt werden.

Diese Übersicht zeigt, wie viel Zeit zwischen einer Anfrage für Waffen (Kreis), der Export-Genehmigung (Raute) und der Lieferung (Quadrat) vergeht.
Diese Übersicht zeigt, wie viel Zeit zwischen einer Anfrage für Waffen (Kreis), der Export-Genehmigung (Raute) und der Lieferung (Quadrat) vergeht.
Institute for the Study of War

In Kombination könnten Marder, Leopard 2 sowie Artillerie und Luftabwehr einen sehr schlagkräftigen Kampfverband bilden, der es Kiew ermöglichen würde, in die Offensive zu gehen – etwa bei Kreminna oder im Süden Richtung Melitopol. Auch der Kreml wird damit rechnen, dass es ab März an der Font anders zu- und hergehen wird.

Mit dieser Erwartung ist es naheliegend, dass Moskau den Februar nutzen wird, um möglichst viel Boden gutzumachen. Russland hat in Swatowe und Kreminna einige der besten Einheiten stationiert, um ukrainische Vorstösse im Norden des Schlachtfelds abzufangen. Es wird spekuliert, dass das Militär Richtung Westen in die Offensive gehen könnte.

Truppen-Konzentration in Kreminna

Dafür sprechen Berichte über Truppen-Konzentrationen in Kreminna. Diese Einheiten könnten entlang der T-0528 angreifen: Bei Dibrowa westlich von Kreminna sind die Parteien bereits aneinandergeraten. Dahinter liegen die russischen Ziele Saritschnae und vor allem Lyman. Auch aus Makijwka, nordwestlich von Kreminnna, werden Gefechte gemeldet.

In die Offensive geht Wladimir Putin auch im Donbass und in der Südukraine – mit Ansage von seinem Intimfeind und Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj: Seit Wochen warnt der ukrainische Präsident vor einer gegnerischen Offensive nach einer Zeit des relativen Stillstands an der Front.

«Ich glaube, Russland will wirklich seine grosse Rache», zitiert ihn «Al-Dschasira». «Ich glaube, sie haben damit begonnen. Jeden Tag bringen sie entweder mehr ihrer regulären Truppen oder wir sehen einen Anstieg der Anzahl von Wagner-Soldaten.» Die Situation in Bachmut bezeichnet Selenskyj am 29. Januar als «sehr schwierig».

Bachmut wird fallen

Tatsächlich geraten die ukrainischen Verteidiger in Bachmut immer mehr unter Druck. Die Angreifer haben zuerst versucht, die Verteidigung nördlich der Stadt bei Sil zu durchbrechen. Als dieser Versuch scheitert, gelingt es russischen Einheiten, etwas weiter südlich bei Blahodatne durchzubrechen. Sie haben die Bachmutske und die T-0513, die die erste Linie der Verteidiger ist, überquert.

Nun droht Krasna Hora, die vorletzte Bastion nördlich von Bachmut, zu fallen. Dafür konnten Moskaus Männer im Süden nicht noch mehr Boden gutmachen, doch sie bleiben in Klischtschijwka präsent und bedrohen weiterhin den Nachschub nach Bachmut.

Tatsächlich dürfte es nun nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die Stadt fällt. Die ukrainische Armee muss Bachmut jetzt räumen, solange noch genug Zeit für einen geordneten Rückzug bleibt. Wahrscheinlich wird die neue Front bald vor Tschassiv Jar im Westen von Bachmut liegen.

Wuhledar: Eine Welle nach der anderen

Weiter südlich bleibt auch Wuhledar unter «konstantem russischem Angriff», sagt Selenskyj: «Der Feind kümmert sich nicht um seine Leute, und trotz zahlreicher Verluste wird eine hohe Kadenz von Attacken beibehalten.» Dabei sind die Verteidiger eigentlich in einer guten Position, weiss ein Oberst der ukrainischen Armee.

«Die Stadt liegt erhöht und es wurde eine extrem starke Verteidigung aufgebaut», sagt Mykola Salamakha. «Es ist eine Wiederholung der Situation in Bachmut – eine Welle russischer Truppen nach der anderen wird zerstört.» Zumindest noch. Die Verteidiger haben die Russen zwar aus dem Ostteil von Wuhledar vertrieben, doch der Gegner wird nach diesem Angriffsschema wohl weitermachen, bis Moskau Erfolge vermelden kann. 

Bei dieser Taktik bleibt der ukrainischen Seite nur eines: Sie muss für möglichst hohe russische Verluste bei möglichst geringen eigenen Ausfällen sorgen, bis westliche Waffenhilfe eine neue Offensive ermöglicht.

«Das einzige, was du tun kannst, ist lachen»

Für die Zivilbevölkerung ist und bleibt die Lage fatal, berichtet ein Kanadier, der als Sanitäter für die ukrainische Armee arbeitet. «Ich habe gesehen, wie [die Russen] Leute niedergemetzelt haben», sagt Brandon Mitchell. «Ich habe Leichen in Soledar ausgegraben und Leute evakuiert. Ich habe eine Frau getroffen. Sie war Mathe- und Physiklehrerin.»

Ein ukrainischer Soldat verschnauft am 28. Januar in der Donezk-Region.
Ein ukrainischer Soldat verschnauft am 28. Januar in der Donezk-Region.
AP

Und weiter: «Sie hat uns die Narben auf ihrem Rücken gezeigt. Sie und ihr Mann wurden von tschetschenischen Soldaten gefoltert. Ihnen wurde vorgeworfen, sie würden Waffen verstecken. Ihnen wurde gesagt, wenn sie nicht gestehen, würden die Tschetschenen in ihrem Haus ein weiteres Butscha veranstalten.» In Butscha hat die russische Armee Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung begangen.

Oft ist das Erlebte so grausam, dass es bizarre Reaktionen gibt, erklärt Mitchell. «Einmal musste ich einem Hund hinterherjagen, der die Schulter seines Besitzers im Maul hatte und weggelaufen ist. Wenn ich ehrlich bin, fand ich das in jenem Moment ziemlich lustig. Weil es absurd ist. Es ist Absurdität pur. Ich will nicht kalt oder grausam klingen, aber manchmal ist das Einzige, was du tun kannst, lachen.»

Waffen-Update

Nachdem US-Präsident Joe Biden der Ukraine vorerst keine F-16-Kampfjets liefern will, will Kiew aus Warschau «positive Signale» erhalten haben, dass Polen die Falcon liefern könnte. Premier Mateusz Morawiecki sagte, man müsse das mit den Nato-Partnern koordinieren.

Der französische Präsident wiederholte derweil, Paris schliesse einen Export der Mirage 2000 nicht aus. Zuvor müssten aber einige Bedingungen erfüllt sein, so Emmanuel Macron. Frankreich will ausserdem zusammen mit Australien der Ukraine mehrere Tausend Artilleriegeschosse im 155-Millimeter-Format liefern.

Biden und Scholz bremsen Kampfjet-Debatte

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31.01.2023