Experte zu Friedenslösung«In Nahost ist noch sehr viel Unerwartetes möglich»
Von Dominik Müller
14.1.2024
Auf dem Schlachtfeld scheint ein Ende des Nahost-Kriegs nicht in Sicht. Islamforscher Reinhard Schulze sagt im Interview, wie eine politische Lösung aussehen könnte und warum die Huthi den Iran provozieren.
Von Dominik Müller
14.01.2024, 20:20
Dominik Müller
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Auf dem Schlachtfeld scheint ein Ende des Nahost-Kriegs derzeit nicht in Sicht. Islamforscher Reinhard Schulze zeigt auf, wie eine politische Lösung aussehen könnte.
Es brauche zwei Komponenten: Eine Waffenruhe im gesamten Kriegsgebiet bei gleichzeitiger Freilassung aller Geiseln und eine Debatte mit der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland.
Trotz all den schrecklichen Dingen, die passieren, dürfe man einen gewissen Optimismus auf eine Friedenslösung wagen.
Die Angriffe der Huthi auf Schiffe im Roten Meer seien auch als Provokation für den Iran gedacht, um diesen aus der Defensive zu locken.
Herr Schulze, seit drei Monaten wird bereits im Gazastreifen gekämpft. Ist der Krieg in Nahost mit militärischen Mitteln zu lösen?
Der Konflikt selbst ist militärisch nicht zu lösen, weil dahinter auch noch ein kultureller, sozialer und politischer Konflikt besteht, der durch militärische Massnahmen gar nicht gelöst werden kann. Das heisst: Es braucht noch eine politische Lösung neben den militärischen Aktionen der israelischen Armee und neben dem Ausschalten von Hamas, dem Islamischen Dschihad und den Volkswiderstandskomitees.
Zur Person
Uni Bern
Prof. em. Dr. Reinhard Schulze ist ein deutsch-schweizerischer Islamwissenschaftler. Nach Professuren an den Universitäten Bochum und Bamberg war er ab 1995 bis zu seiner Emeritierung 2018 ordentlicher Professor für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie an der Universität Bern. Sein wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt auf der Erforschung des sozialen Wandels im Kontext der islamischen Welt.
Wie könnte eine solche politische Lösung aussehen?
Es sind zwei Ebenen, die gleichzeitig verlaufen müssten. Auf der einen Seite muss eine Waffenruhe im gesamten Kriegsgebiet bei gleichzeitiger Freilassung aller Geiseln herbeigeführt werden. Das ist gesetzt. Parallel dazu muss aber eine Debatte mit der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland erfolgen. Gaza untersteht seit dem zweiten Osloer Abkommen von 1995 der Autonomiebehörde und ist damit ein Teil des De-facto-Staates Palästina. Das heisst also: Die Palästinensische Autonomiebehörde muss in den Lösungsprozess um die Zukunft von Gaza einbezogen werden. Deshalb muss mit dieser auch die politische Diskussion erfolgen, auch, um deren Souveränität über den Gazastreifen wiederherzustellen.
Der Zusammenhang zwischen Palästinensischer Autonomiebehörde und PLO:
Die Palästinensische Autonomiebehörde wurde 1994 im Rahmen des Osloer Abkommens als Interimsorganisation gegründet, um den Gazastreifen und Teile des Westjordanlandes zu verwalten, bis ein unabhängiger Staat gegründet wird.
Die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) ist eine Dachorganisation verschiedener Fraktionen, die die Vertretung aller Palästinenser*innen anstrebt.
Die Autonomiebehörde ist historisch eng mit der PLO verknüpft und die Mitglieder der Exekutive meist aus den Reihen der PLO besetzt. «Die PLO ist die Parteienversammlung, die die Autonomiebehörde trägt», sagt Islamforscher Reinhard Schulze.
Was braucht es, um Israel und die Palästinensische Autonomiebehörde an den Runden Tisch zu kriegen?
Man hat schon versucht, die Beteiligten ins Gespräch zu bringen. Jetzt geht es darum, die PLO wieder so zu erstarken, dass sie auch als ernsthafter Gesprächspartner für eine Friedenslösung mit in Betracht gezogen werden kann. Ich nehme an, dass die israelischen Behörden sehr interessiert daran sind, mit der PLO irgendwann Verhandlungen herbeizuführen. Aber die Legitimät der PLO innerhalb der palästinensischen Bevölkerung ist derzeit so schlecht, dass da noch einiges getan werden muss, um die Akzeptanz einer Friedenslösung, die die PLO mitträgt, durchzusetzen.
Wie kann die Hamas in eine mögliche politische Lösung integriert werden?
Die Hamas wird man sicherlich nicht als Teil der Lösung interpretieren können. Aber es zeichnet sich eine Art von Kompromisslösung am Horizont ab, die etwa auch im Nordirlandkonflikt gewählt wurde. Damals wurden die militanten Parteien, zum Beispiel die IRA, entwaffnet, aber zu politischen Parteien umgebaut, die dann ins politische System integriert wurden. Und man diskutiert jetzt auch die Möglichkeit, die Hamas als politische Institution neu zu gründen und der PLO zu unterstellen. Bislang sind weder die Hamas noch der Islamische Dschihad oder die Volkswiderstandkomitees Teil der PLO. Wenn aber zumindest Hamas als demilitarisierte, politische Organisation der PLO unterstellt und damit durch die politischen Institutionen der PLO kontrollierbar werden, dann würde sich eine Lösung abzeichnen, die vielleicht selbst innerhalb der palästinensischen Bevölkerung positiv aufgegriffen werden könnte.
Dies würde aber wohl einen langwierigen politischen Prozess voraussetzen.
Das würde ich gar nicht so sagen. Der Friedensprozess in Nordirland hat gezeigt, dass politische Prozesse auch nach langer Zeit des Stillstandes plötzlich umschlagen können zu einer Lösung, die von der Bevölkerung als sehr positiv interpretiert wird. Ein solcher Prozess könnte genauso gut in Gaza oder im Westjordanland stattfinden.
Was müsste ein Abkommen beinhalten, um in der palästinensischen Bevölkerung auf Akzeptanz zu stossen?
Es müsste der Bevölkerung sichtbar Vorteile verschaffen, etwa Bewegungsfreiheit, die Erschliessung von neuen sozialen Räumen oder eine Lösung des Territorialproblems. Wenn sich das alles verbinden lässt, dann ist die Akzeptanz einer möglichen Friedenslösung sehr viel grösser. Wer hätte 1998 gedacht, dass Katholiken und Protestanten nach dem Karfreitagsabkommen in Nordirland wieder gemeinsam ins Pub gehen? Auch in Nahost ist noch sehr viel Unerwartetes möglich.
Eine politische Lösung, etwa die Zwei-Staaten-Lösung, wird schon seit Jahrzehnten diskutiert. Könnte die aktuelle Eskalationsstufe des Konflikts und die damit verbundenen Abgründe, die beide Seiten erfahren müssen, dazu führen, dass der Wille zu einer schnellen Friedenslösung auf beiden Seiten gestärkt wird?
Ich denke schon. Gerade die Reaktionen der radikalen nationalistischen Kreise auf diese Krise machen deutlich, dass ohne eine politische Lösung der Krieg so verlängert wird, dass er letztendlich sowohl Israel als auch Palästina in ihrer Existenz bedroht. Und da drängt sich jetzt ein Lösungsprozess auf und wird möglicherweise in den nächsten Wochen starten. Wahrscheinlich ist das im Hintergrund schon sehr weit diskutiert worden. Auch US-Aussenminister Blinken hat in seiner kürzlichen Nahost-Reise darauf gepocht, dass sich die Palästinensische Autonomiebehörde so weit reformiert, dass sie tatsächlich auch in den Lösungsprozess eingreifen kann. Hier zeichnet sich eine Neuorientierung ab. So darf man trotz all den schrecklichen Dingen, die passieren, einen gewissen Optimismus wagen.
Der Krieg wird bekanntlich an mehreren Fronten geführt: Vom Iran unterstützte Proxy-Organisationen wie die Hisbollah im Libanon oder die Huthi-Rebellen im Jemen führen ihrerseits Angriffe, es droht ein Flächenbrand. Wieso greifen die schiitischen Huthi in einen Krieg ein, der von den sunnitischen Hamas ausgeht?
Die Huthi sind eine schiitisch ausgerichtete Gemeinschaft, die die angestammte schiitische Tradition im Land an die von Revolutionsführer Khomeini im Iran durchgesetzte Schia angepasst hat und die von einem starken Antisemitismus geprägt ist. Für sie ist das Feindbild Israel so stark, dass dessen Vernichtung Teil ihres seit 2000 benutzten politischen Slogans geworden ist. Der Iran kontrolliert diese Situation nicht vollständig, deshalb kann man die Huthi nicht nur als Proxy verstehen. Der Iran versucht auch immer deutlich zu machen, dass er sich nicht vorführen lässt, sondern dass er versucht, eine Art Beschwichtigungspolitik durchzusetzen.
In der Nacht auf Freitag haben die USA und Grossbritannien einen Militärschlag gegen die Huthi als Reaktion auf deren Angriffe auf Schiffe im Roten Meer verübt. Versuchen die Huthi mit provozierten Gegenschlägen des Westens den Iran aus der Deckung zu zwingen?
Ja, die Angriffe der Huthi waren sicherlich auch als Provokation für den Iran gedacht. Die Huthis haben die Attacken mit der Überschrift «Der versprochene Sieg» versehen. Das kann auch gelesen werden als eine Art iranischen Versprechens, dass der Iran jede Aktion schützt, die dazu führt, dass Jerusalem befreit wird. Dieses Versprechen wird von den Huthi nun eingefordert.
Und wie reagiert der Iran?
Die Reaktion der iranischen Führung auf die Aktionen in der Nacht auf Freitag machen deutlich, dass der Iran sich eben nicht so schnell provozieren lässt. Da besteht noch immer eine gewissen strategische Zurückhaltung.
Gehen Sie davon aus, dass der Iran noch aktiv in diesen Konflikt eingreifen wird?
Man weiss, dass der Iran eine Entscheidung, ob und in welcher Weise das Land eingreifen würde, ausschliesslich von seinen eigenen Interessen abhängig macht. Wenn es der strategischen Interessenslage des Irans entspricht, dann würde ein Eingreifen möglich werden. Aber der Iran greift nicht deshalb ein, weil die Hisbollah im Libanon oder die Huthi im Jemen Aktionen provoziert haben. Der Iran weiss, dass dies ein selbstmörderischer Akt wäre. Eine militärische Reaktion Israels und der USA stellt für den Iran eine so massive Bedrohung dar, dass der Iran nur unter grössten Umständen in den Krieg eingreifen würde.
Ein Kriegsentritt ist also ausgeschlossen?
Man weiss nie, wie sich die politische Szene im Iran entwickelt. Insbesondere Gruppen, die mit radikalen Teilen der Revolutionsgarden verbunden sind, könnten eigenständig agieren und die iranische Regierung vor vollendete Tatsachen stellen.