Politisch aufgeladenSo viel Zündstoff steckt im WM-Duell England gegen Iran
Von Andreas Fischer
21.11.2022
WM-Round-up: Ein ernüchternder Auftakt für Katar – bis auf die Eröffnungsfeier
Im Round-up zur Weltmeisterschaft in Katar blickt blue Sport auf den ersten Tag, die Eröffnungsfeier und den Mann des Auftaktspiels.
20.11.2022
Politik, Proteste, geplante Solidaritätsbekundungen und Rückzieher: Das WM-Spiel zwischen England und Iran ist das brisanteste des Tages. Der Fussball steht dabei nur an zweiter Stelle.
Von Andreas Fischer
21.11.2022, 13:43
21.11.2022, 15:29
Von Andreas Fischer
England gegen den Iran – der aktuelle Vize-Europameister gegen ein Team, das zwar auf Platz 20 der FIFA-Weltrangliste steht, aber klarer Aussenseiter ist. Sportlich gesehen gibt es bei der Fussball-WM in Katar spannendere Ansetzungen.
Brisant ist das Match dennoch: Der WM-Auftakt beider Mannschaften (Anpfiff heute um 14 Uhr MEZ) steht in einem hochpolitischen Spannungsfeld. Das hat mehrere Gründe: die Proteste im Iran, die von der FIFA unerwünschten «One Love»-Captainsbinde und ein Kniefall, den England-Coach Gareth Southgate angekündigt hat.
Nicht zuletzt aber wollen die Fans beider Teams in der 22. Spielminute ein ganz besonderes Zeichen setzen.
Sport und Politik haben nichts miteinander zu tun – selten war das Mantra der FIFA so hinfällig wie bei dieser hoch politisierten Weltmeisterschaft. Die Konflikte zwischen Wunsch und Wirklichkeit kulminieren nach dem denkwürdigen Auftaktspiel von Sonntag bereits am ersten vollen Vorrundenspieltag.
Irans Captain und der «Regenbogengott»
Der Volksaufstand im Iran bestimmt seit Wochen die Diskussionen um die iranische Nationalmannschaft. Rufe nach dem Ausschluss des Teams von der WM wiegelte FIFA-Chef Gianni Infantino immer ab: «Es sind ja nicht alle 80 Millionen Iraner Monster.»
Bei der ersten Medienkonferenz der WM hat der iranische Captain Ehsan Hajsafi ein eindeutiges Zeichen gesetzt: Er begann seine Rede «im Namen des Regenbogengottes» und sprach den Hinterbliebenen der Opfer des Regimes sein Beileid aus. Die Spieler der Nationalmannschaft würden mit den Hinterbliebenen sympathisieren.
Worte, die sich viele Menschen im Iran erhofft und die sie eingefordert hatten. In der vergangenen Woche war es im Land erneut zu lautstarken Unmutsbekundungen gegen die Mannschaft gekommen: Vor dem Abflug nach Katar hatte sich das Team bei einem Empfang vor Staatspräsident Ebrahim Rais verbeugt. Bilder zeigten viele Spieler bei bester Laune und zu Scherzen aufgelegt: just an jenem Tag, als die Revolutionsgarden den zehnjährigen Kian ermordet hatten.
Daraufhin ging unter anderem ein Mannschaftsbild an einer Teheraner Brücke in Flammen auf. Auch in den sozialen Medien äusserten sich wütende Menschen: «Ganz gleich, welches Ergebnis die verhasste Mannschaft der Islamischen Republik erzielt, wir werden uns auf den Strassen versammeln, um die Niederlage der Mannschaft der Islamischen Republik zu feiern und dabei revolutionäre Slogans zu skandieren.»
Dass der iranische Captain Ehsan Hajsafi seine jüngste Absprache nun mit «Im Namen des Regenbogengottes», ist eine Reminiszenz an den kleinen Kian: In einem herzzerreissenden Video, das nach dessen Ermordung im Internet kursiert, erzählt auch der Junge vom «Gott aller Regenbogen» – und dass er Erfinder werden wolle.
Was planen die Fans im Stadion?
Laut einem Bericht des ZDF haben sich Fans aus England verabredet, um in der 22. Spielminute den Namen von Mahsa Amini zu skandieren. Ihre Tötung durch die iranische Sittenpolizei hatte die Proteste im Iran ausgelöst. Mahsa Amini wurde 22 Jahre alt.
Katar: Leere Ränge bei Eröffnungsspiel gegen Ecuador
Katar, ein Land ohne Fussball-Tradition? Das ist dem WM-Gastgeber immer wieder vorgeworfen worden. Nun haben beim Auftaktspiel gegen Ecuador viele Katarer bereits zur Halbzeit das Stadion verlassen, leere Ränge waren die Folge.
21.11.2022
Was machen Irans Spieler?
Die leidgeprüften Menschen im Iran erwarten und hoffen darauf, dass einige Spieler auch auf dem Platz Farbe bekennen und sich mit der Protestbewegung solidarisieren. Wobei Stürmer Karim Ansarifard (bei Omonia Nikosia unter Vertrag) weiss: «Alles, was wir machen, wird interpretiert. Und jeder interpretiert es anders.»
Vermutet wird, dass zumindest einige der im Ausland unter Vertrag stehenden Spieler die Nationalhymne nicht mitsingen werden. Irans portugiesischer Nationaltrainer Carlos Queiroz hat seinen Spielern jedenfalls freie Hand gelassen.
Generell stehen die Spieler des Iran unter besonderer Beobachtung und unter Druck. Im September hatten sie noch kollektiv Schwarz getragen bei der Hymne vor einem Freundschaftsspiel. Danach blieb es erstaunlich ruhig.
So hatte sich Bayer Leverkusens Sardar Azmoun als erster Nationalspieler im September mit der Protestbewegung solidarisiert («Schämt euch, die ihr Menschen mit so einer Leichtigkeit tötet. Es lebe die iranische Frau.»). Danach aber hat er sich nicht weiter kritisch geäussert. Sein Instagram-Profilbild ist schwarz.
Eigentlich wollte Englands Harry Kane wie auch die Captains von sieben weiteren europäischen Ländern, darunter die Schweiz mit Granit Xhaka, mit einer Armbinde in Regenbogenfarben und dem Slogan «OneLove» ein Zeichen für Diversität setzen. Das hatte die FIFA unter Androhung von Sanktionen verboten. Zwar hatte Englands Verband erklärt, Geldstrafen in Kauf zu nehmen.
Die von der FIFA angekündigten Gelben Karten für das Tragen der «OneLove»-Binde ist den Teams dann aber doch ein zu hoher Preis: In einem gemeinsamen Statement erklärten sie den Verzicht auf die Aktion, um die Spieler nicht in eine Lage zu bringen, in der sie sportliche Sanktionen zu befürchten haben.
Die Captains dürfen stattdessen die von der FIFA als Gegenentwurf entwickelten «No Discrimination»-Armbinden tragen.
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Welches Zeichen wollen die Engländer setzen?
Die Engländer wollen vor dem Spiel auf die Knie gehen. Die Three Lions haben das Zeichen gegen Rassismus seit dem Tod von George Floyd im Jahr 2020 in jedem Spiel gesetzt und beschlossen, diese Geste während des Turniers in Katar fortzusetzen. Floyds Tod bei einer Festnahme in Minneapolis, Minnesota wurde zum Symbol für Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA.
«Das ist es, wofür wir als Mannschaft stehen und was wir schon seit Langem tun», wird Trainer Gareth Southgate von der BBC zitiert. «Wir sind der Meinung, dass dies die grösste Geste ist und wir denken, dass es ein starkes Statement ist, das um die Welt gehen wird, um vor allem jungen Menschen zu zeigen, dass Inklusion sehr wichtig ist.»
Schaust du die WM? «Nein. Es geht gar nicht mehr um Fussball»
blue Sport hat sich in Zürich umgehört, ob die Leute schon im WM-Fieber sind. Viele lassen die Fussballspiele bewusst aus, manche wollen aber auch einschalten.