Missbrauchsprozess von Avignon So hat der Fall Pelicot ein ganzes Land verändert

Dominik Müller

19.12.2024

Gisèle Pelicot ist mit ihrem Mut, auf ihr Recht auf Anonymität zu verzichten, für viele Menschen zu einer Heldin geworden. 
Gisèle Pelicot ist mit ihrem Mut, auf ihr Recht auf Anonymität zu verzichten, für viele Menschen zu einer Heldin geworden. 
Bild: Keystone/AFP/Clement Mahoudeau

Gisèle Pelicot ist mittlerweile eine Ikone für den Kampf gegen Gewalt an Frauen. Hundert Verhandlungstage lang hat sie sich ihren Peinigern gestellt. Die Folgen reichen weit über das bevorstehende Urteil hinaus.

Dominik Müller

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Die zigfache Vergewaltigung von Gisèle Pelicot hat in Frankreich und auch international Schockwellen ausgelöst.
  • Der Prozess dürfte eine nachhaltige Wirkung auf die Debatte um sexuelle Gewalt an Frauen haben.
  • Die wichtigsten Aspekte zum Mammutprozess in Avignon im Überblick.

Der Vergewaltigungsprozess um Gisèle Pelicot hat in den vergangenen Monaten international Schlagzeilen gemacht. Über ein Jahrzehnt hinweg wurde sie von ihrem damaligen Ehemann Dominique Pelicot mit Medikamenten betäubt und Männern im Internet zur Vergewaltigung angeboten.

Im Prozess geht es um mehr als einen Gerichtsfall. Gisèle Pelicot könnte die Debatte über sexualisierte Gewalt nachhaltig prägen. Der Fall verdeutlicht ihre vermeintliche Normalität, die Scham vieler Opfer und die Verantwortung der männlichen Täter.

Die Tat

Über zehn Jahre hinweg wurde Gisèle Pelicot regelmässig von ihrem damaligen Ehemann mit schwersten Angstlösern und Schmerzmitteln betäubt und missbraucht. Auch hat er sie von fremden Männern vergewaltigen lassen, während sie bewusstlos war.

Tausende Fotos und Videos zeugen von den Taten. Die Männer, die zur Tatzeit zwischen 21 und 68 Jahre alt waren, lernte der damalige Ehemann über eine Online-Plattform kennen. 50 von ihnen standen mit ihm vor Gericht. Chefermittlerin Gwenola Journot geht von weiteren 10 bis 20 Tätern aus, die die Justiz nicht identifizieren konnte.

Das Opfer

Gisèle Pelicot wurde am 7. Dezember 1952 im Südwesten Deutschlands in Villingen als Tochter eines französischen Berufssoldaten geboren. Als sie neun Jahre alt war, starb ihre Mutter mit 35 an Krebs. Auch ihr Bruder Michel wurde nur 43 Jahre alt. Er starb 1971 an einem Herzinfarkt. Mitten in dieser Trauerphase lernte sie 1971 ihren künftigen Ehemann Dominique Pelicot kennen. Das gleichaltrige Paar heiratete zwei Jahre später, im April 1973, und zog in den Pariser Vorort Villiers-sur-Marne. Dort wuchsen auch ihre drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter, auf.

Gisèle Pelicot steht nach dem Prozessauftakt im September den Medien Rede und Antwort.
Gisèle Pelicot steht nach dem Prozessauftakt im September den Medien Rede und Antwort.
Bild: Keystone

Die Missbräuche begannen für die mittlerweile 72-jährige Französin nach dem Umzug 2013 in die Provence. Die Taten führten bei ihr zu Schlafstörungen, gynäkologischen Problemen, Gedächtnisverlust und Depressionen – auch Folgen der Medikamente, die ihr Mann ihr verabreichte. Ihr zuvor intensiver Kontakt zu ihren Kindern und Enkelkindern brach ein.

Die Täter

Auf der Anklagebank in Avignon sass einerseits der Ex-Ehemann des Opfers, der Haupttäter, zum anderen aber 50 weitere Angeklagte, die einen Querschnitt durch die Gesellschaft bilden. Vom Schreiner bis zum Journalisten, von jung bis alt, von gebildet bis ungebildet, sie heissen Jean-Luc, Paul und Christian. Die meisten stammen aus der Umgebung von Mazan, dem Wohnort der Pelicots. Dass es sich bei den Tätern um scheinbar gewöhnliche Typen handelt, sei für viele Experten einer der Gründe, warum der Fall so viele Menschen beschäftigt.

Die Beschuldigten erschienen vermummt vor Gericht.
Die Beschuldigten erschienen vermummt vor Gericht.
Bild: Imago/Abacapress

Der Prozess

Bereits im September gestand Dominique Pelicot zum Prozessbeginn in Avignon seine Taten.

350 Seiten umfasst die Anklageschrift. Die Staatsanwaltschaft hat 20 Jahre Haft für Dominique Pelicot gefordert, für die Mitangeklagten vier bis 18 Jahre. Die Verteidigung hingegen forderte für einen grossen Teil der Männer, die Gisèle Pelicot im Zustand der Bewusstlosigkeit missbraucht hatten, einen Freispruch.

Tausende Menschen demonstrieren am 14. September in Paris gegen sexualisierte Gewalt.
Tausende Menschen demonstrieren am 14. September in Paris gegen sexualisierte Gewalt.
Bild: Keystone

Die immer wieder vorgebrachten Argumente der Anwälte über ihre Mandanten: Sie wussten nicht, was sie taten. Sie hatten sie gar nicht vergewaltigen wollen. Viele erklärten, sie seien überzeugt gewesen, sie hätten sich an einem Sexspiel eines freizügigen Paares beteiligt. Keiner der Mitangeklagten hatte ein Problem damit gehabt, dass die zeitweise sogar schnarchende Gisèle Pelicot offensichtlich nicht in der Lage gewesen war, ihre Zustimmung zum Sex zu geben. Es gab sogar den Erklärungsversuch, dass die Anwesenheit ihres Ehemannes ausreiche, um ihre Zustimmung anzunehmen.

Die Anwältin von Dominique Pelicot argumentierte, dass sein perverses Verhalten auf frühere traumatische Erlebnisse wie sexuellen Missbrauch in seiner Jugend und einen tyrannischen Vater zurückzuführen sei.

Warum war der Prozess öffentlich?

Das Verfahren wurde nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgehalten – auf expliziten Wunsch von Gisèle Pelicot. Sie setzte sich ausdrücklich dafür ein, die Videos der Vergewaltigungen im Gerichtssaal zu zeigen. Wenn sie das Gerichtsgebäude betrat oder verliess, applaudierten ihr die vielen Zuschauer*innen. Die Aufmunterungen nahm sie lächelnd und meist wortlos entgegen.

Die denkwürdigsten Zitate

«Damit die Scham die Seite wechselt», begründete Gisèle Pelicot ihren Wunsch, den Prozess öffentlich stattfinden und Aufnahmen der Tat zeigen zu lassen. Über ihr Innenleben gab sie nur wenig preis. Mit einer Ausnahme: «Ich weiss nicht, ob ich jemals verstehen werde, was mir passiert ist, was ich erlitten habe. Ich bin eine total zerstörte Frau.» Eine, die man «wie einen Müllsack» benutzt habe.

«Das ist der Prozess der Feigheit», sagte Gisèle Pelicot in ihrer letzten Aussage vor den Plädoyers am 19. November. Sie verwies dabei auf Angeklagte, die angaben, wie fremdgesteuert gewesen oder selbst womöglich unter Drogen gesetzt worden zu sein.

«Ich bin ein Vergewaltiger wie die anderen, die in diesem Saal sind. Sie wussten es alle, sie können nicht das Gegenteil behaupten», sagte Dominique Pelicot vor Gericht.

«Wir müssen aufhören, zu glauben, dass ein guter Familienvater kein Vergewaltiger sein kann», plädierte einer der beiden Anwälte von Gisèle Pelicot an die Adresse der Gesellschaft. Die psychiatrischen Gutachten der Angeklagten enthüllten während des Prozesses aussergewöhnliche familiäre Abgründe mit Inzest und sexuellem Missbrauch.

Die erschreckend hohe Zahl Mitangeklagter fasste der Anwalt zudem in einer Frage zusammen: «Wie kann es sein, dass man in Frankreich im Jahr 2024 50 Personen im Umkreis von 50 Kilometern findet, die sich ohne das geringste Gespräch eines Körpers sexuell bedienen, der leblos ist und den man wälzen muss, um ihn zu bewegen?»

Die Folgen

Der Prozess in Avignon hat nach Ansicht betroffener Verbände mehr für die Sache weiblicher Gewaltopfer getan als viele Gesetze zuvor. Innerhalb weniger Wochen ist Gisèle Pelicot in Frankreich zu einer neuen feministischen Ikone geworden: Ihr Gesicht und ihr Name tauchen inzwischen als Graffiti in den Strassen Frankreichs auf.

In mehreren französischen Städten – wie hier in Avignon – sind Wände mit Pelicot-Graffitis verziert.
In mehreren französischen Städten – wie hier in Avignon – sind Wände mit Pelicot-Graffitis verziert.
Bild: Keystone

Der Prozess bewegt viele, auch weil Gisèle Pelicot öffentlich macht, was ihr angetan wurde, ihr Gesicht zeigt, sich als Opfer nicht versteckt.

Mehrmals haben in verschiedenen französischen Städten Tausende Menschen demonstriert, um ihre Solidarität für Pelicot und andere Opfer sexualisierter Gewalt auszudrücken.

Im französischen Strafrecht steht bis heute, dass ein Täter Gewalt oder Zwang angewendet oder damit gedroht haben muss, um ihn wegen Vergewaltigung zu verurteilen. Von einer fehlenden Zustimmung des Opfers ist nicht die Rede. Nun fordern immer mehr Menschen, das Prinzip «Nur Ja heisst Ja», das bereits in Spanien und Schweden gilt, auch in Frankreich gesetzlich festzuschreiben.

Nun hat der abgetretene Premierminister Michel Barnier diverse Massnahmen angekündigt. So sollen Gewaltopfer bis Ende 2025 schon im Spital Anzeige gegen ihren Peiniger erstatten können, zumal die rasche Beweisaufnahme gerade bei Betäubungen durch Schlafmittel, Drogen oder K.-o.-Tropfen entscheidend ist.

Barnier kündigte ausserdem an, dass die Regierung zusätzliche Mittel für die Unterstützung von Opfern häuslicher Gewalt bereitstellt. 33'000 Zahlungen seien in diesem Zusammenhang bereits geleistet worden. Zudem werden Polizisten in Frankreich ab sofort alle drei Jahre speziell für die Aufnahme von Vergewaltigungsanzeigen ausgebildet.