«Alles ist eine Bedrohung» Ukrainische Scharfschützen schildern ihren Front-Alltag 

gbi

5.8.2023

Ukrainische Scharfschützen brauchen viel Geduld – und schiessen nur im äussersten Notfall.
Ukrainische Scharfschützen brauchen viel Geduld – und schiessen nur im äussersten Notfall.
Bild: AP

Von wegen Nacht- und Nebelaktionen: Einsätze von Scharfschützen laufen ganz anders ab als im Film. Ukrainische Sniper geben Einblick in ihre Arbeit, räumen mit Klischees auf – und erklären, warum sie fast nie schiessen. 

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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Scharfschützen kommt innerhalb der ukrainischen Streitkräfte eine besondere Bedeutung zu. Doch weil sie diskret agieren, ist kaum etwas über ihre Vorgehensweise bekannt.
  • Mit der Darstellung in Hollywood-Filmen habe ihre Arbeit nichts zu tun, sagen drei Scharfschützen, die mit der «Kyiv Post» sprachen.
  • In zehn Einsätzen würden sie vielleicht einen einzigen Schuss abfeuern, stellen die Elitesoldaten beispielsweise klar.

Wenn sie im Krieg überleben wollen, müssen sie unsichtbar bleiben. Niemand darf wissen, wo sie stecken, was sie tun. Für Scharfschützen ist Diskretion eine Lebensversicherung. Allein deshalb ist es interessant, wenn einer von ihnen aus seinem Alltag erzählt.

Kommt hinzu, dass Hollywood das Bild von Sniper-Einsätzen geprägt hat: Der Schütze (im Film sind es meist Männer) bezieht Position auf einem Dach, schaut konzentriert durch sein Zielfernrohr und schaltet dann einen Bösewicht mit gezieltem Schuss aus.

Doch mit der Realität hat das wenig zu tun. Die «Kyiv Post» konnte mit drei Scharfschützen sprechen, die für Kiews Truppen in der Ukraine Kriegsdienst leisten.

Auf zehn Einsätze würde vielleicht ein einziger Schuss abgefeuert, sagt einer der Schützen, den die Zeitung Volodymyr Harbovsky nennt – die wahren Namen der Elitesoldaten bleiben geheim. «Einen feindlichen Soldaten auszuschalten, ist so gut wie nie die Priorität. Es ist eher eine Gelegenheit, die man ergreift, wenn sie sich bietet.»

Beobachten statt Abdrücken

«Der Schlüssel zu unserer Arbeit sind Vorbereitung und Geduld», sagt Maksym Federchuk, ein anderer Schütze. «Wenn man seinen Job machen will, muss man am Leben bleiben, und um das in diesem Krieg zu tun, muss man verstehen, wie gross die Gefahr da draussen ist.»

Meist würden die Sniperteams – die aus bis zu vier Mann bestehen – zu Beobachtungszwecken eingesetzt und dabei helfen, eine Verteidigungsposition zu halten. Sie würden einer Kampfbrigade zugeteilt und lange auf ihrer Position ausharren. Die Schichten dauerten 12 bis 14 Stunden, berichten die drei Männer.

Wenn sie einmal einen russischen Soldaten erspähen, erstellen sie ein genaues Kartengitter und fordern Artillerie- oder Mörserbeschuss an. Womöglich eine Drohne. Doch mit ihrem eigenen Gewehr schiessen – wie in Hollywood-Filmen –, das sei immer die letzte Option, sagt einer der Schützen, der Volodymyr Petrenko genannt wird. Und wenn, dann hätte mindestens einer der Scharfschützen einen gravierenden Fehler gemacht.

«Das Letzte, was ein Scharfschütze in diesem Krieg tun will, ist, seine Position zu verraten», sagt der Soldat. Denn dann sei ihm heftiger Beschuss sicher. Die Russen würden gar nicht erst abklären, wo genau er sich aufhalte, sondern die ganze Umgebung mit Granaten eindecken.

«Eine ganze Golftasche» voller Equipment dabei

Und Scharfschützen sind nicht so mobil, wie man meinen könnte: Sie würden jeweils eine «ganze Golftasche» voller verschiedener Gewehre, Zielfernrohre und sonstiger Ausrüstungsgegenstände mit sich herumtragen, die sie je nach Art ihres Einsatzes kombinieren könnten.

Dasselbe erklärte ein ukrainischer Scharfschütze, der im Februar der «Japan Times» ein Interview gab und im Donbass im Einsatz stand: «Normalerweise passt die Ausrüstung, die ich dabeihabe, nicht in ein Auto», sagte der 29-Jährige.

Der junge Mann gab auch Einblick darin, wonach ein Scharfschütze denn genau Ausschau hält: «Gestrüpp, das in der Nacht zuvor noch nicht da war, könnte ein feindlicher Scharfschütze sein, wenn es sich um ein ländliches Gebiet handelt», erklärt er. In städtischen Gebieten achtet er eher auf Veränderungen an den Fenstern und Dächern und auf alles, was verdächtig wirke. «Alles ist eine Bedrohung.»

Nicht so agil wie im Film: ein ukrainischer Scharfschütze bei Bachmut. 
Nicht so agil wie im Film: ein ukrainischer Scharfschütze bei Bachmut. 
Bild: AP

Den Scharfschützen käme eine essenzielle Rolle in der Kriegsführung zu, wenn sie auch nicht eine Wunderwaffe seien. Was er damit meint, erklärt er anhand eines Witzes, den man sich im Militär erzähle: «Wenn man der Infanterie und einem Scharfschützen sagt, dass sie acht Stunden Zeit haben, um einen Baum zu fällen, verbringt die Infanterie acht Stunden damit, den Baum zu fällen», sagt er.

«Der Scharfschütze verbringt sieben Stunden damit, die Axt zu schärfen, um ihn dann mit einem Schlag zu fällen.»

Westliche Gewehre haben die Sowjet-Modelle abgelöst

Was im Witz die Axt ist, ist in der Realität das Gewehr. Die Zeiten, als ukrainische Scharfschützen Waffen aus Sowjet- oder russischer Produktion genutzt hätten, seien vorbei, sagt Federchuk der «Kyiv Post». Moderne Gewehre des kanadischen Modells Cadex Defence CDX-33 TAC seien im Krieg gegen die Russen früh zur Verfügung gestanden und darum beliebt. Doch auch Gewehre aus amerikanischer und finnischer Produktion würden einen guten Ruf geniessen.

Um sich vor russischen Wärmebildkameras zu verstecken, würden die Soldaten leichte Tarnpolster aus US-Produktion verwenden und zusätzlich mit spezieller wärmeabsorbierender Folie abdecken.

Spezielle Tarnanzüge, die den Träger aussehen lassen wie Gebüsch, seien dagegen für Scharfschützen denkbar unpraktisch: Zu schwer seien sie, wenn ein Sniper oft kilometerweit zu seinem Standort laufen müsse. Ausserdem werde man darin von Drohnen leicht entdeckt.

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