Kriegsgerät der Stunde Kamikaze-Drohne trifft russisches Ziel – und gibt Rätsel auf

Von Gabriela Beck

23.6.2022

Mutmasslicher Drohnenangriff löst Feuer in russischer Raffinerie aus

Mutmasslicher Drohnenangriff löst Feuer in russischer Raffinerie aus

Ein Feuer in einer russischen Ölraffinerie nahe der Grenze zur Ukraine ist nach Angaben der russischen Behörden mutmasslich auf einen Drohnenangriff zurückzuführen. Angaben zur möglichen Herkunft der Drohnen machte der Gouverneur der Region Rostow

22.06.2022

Sich selbst zerstörende Kamikaze-Drohnen gewinnen im Krieg in der Ukraine an Bedeutung. Gestern hat ein solches Fluggerät eine russische Erdölraffinerie getroffen.

Von Gabriela Beck

Der Beschuss von Treibstoffdepots und kritischer Infrastruktur in der Ukraine gehört zur Kriegsstrategie Russlands – mit verheerenden Folgen. Jetzt dreht Kiew offenbar den Spiess um. Anfang dieser Woche hatte Moskau der Ukraine vorgeworfen, Förderplattformen vor der von Russland annektierten Krim-Halbinsel im Schwarzen Meer angegriffen zu haben. Gestern stürzte eine Kamikaze-Drohne mit hoher Geschwindigkeit in eine Erdölraffinerie wenige Kilometer jenseits der russischen Grenze bei Nowoschachtinsk und setzte sie in Brand.

Ein Behördenbild soll Löscharbeiten an der Nowoschachtinsk-Raffinerie zeigen.
Ein Behördenbild soll Löscharbeiten an der Nowoschachtinsk-Raffinerie zeigen.
Russian Emergencies Ministry

In einem auf Social Media veröffentlichten Video, dessen Echtheit zunächst nicht überprüft werden konnte, ist eine Drohne zu sehen, die über einem Industriegebiet fliegt, bevor eine Explosion und ein Feuerball zu beobachten sind. «Einer Version zufolge wurde das Feuer durch einen Drohnenangriff auf technische Vorrichtungen der Anlage verursacht», erklärte der Gouverneur der Region Rostow, Wassili Golubow, am Mittwoch im Messengerdienst Telegram.

Unentdeckt von russischer Flugabwehr

Schon Anfang April gelang es der Ukraine, Russland mit einem Angriff über die feindlichen Linien hinweg auf dessen eigenem Boden zu treffen, als es in der Grenzregion Belgorod mit Helikoptern ein russisches Treibstofflager in Brand schoss. Beim jetzigen Vorfall handelt es sich um den ersten bekannten Einsatz einer Kamikaze-Drohne gegen ein Ziel in Russland.

Um ihr Ziel zu erreichen, legte das unbemannte Fluggerät unerkannt rund 170 Kilometer über besetztes Gebiet in der Ostukraine und der von pro-russischen Separatisten kontrollierten Region Luhansk zurück – ohne von der russischen Flugabwehr entdeckt zu werden.

Das muss allerdings nicht unbedingt auf Unfähigkeit vonseiten der Russen schliessen lassen, denn gegen kleinere Drohnen gibt es heute noch kein wirksames Abwehrsystem. «Kleine Drohnen sind durch Radar kaum erfassbar. Sie fliegen typischerweise sehr tief und sie kommen immer schneller voran», sagt ETH-Experte Roland Siegwart zu blue News.

Gefahr durch «herumlungernde Munition»

Um welches Gerät genau es sich in Nowoschachtinsk gehandelt hat, ist noch unbekannt. Zwar sind auf dem Gelände der Raffinerie Drohnenteile gefunden worden. Angaben zur möglichen Herkunft der Drohnen machen die Behörden aber nicht. Klar ist: Unbemannte Kamikaze-Drohnen gewinnen im Krieg in der Ukraine an Bedeutung. Als sogenannte loitering munition lungern sie bis zu 24 Stunden über ihrem Ziel unerkannt in der Luft herum, um sich dann im geeigneten Augenblick darauf zu stürzen, wobei sie selbst zerstört werden.

Bei dem Angriff auf die Raffinerie könnte eine ukrainische Eigenentwicklung zum Einsatz gekommen sein: Die Drohne PD-2 hätte eine genügend grosse Reichweite und kann mit Bomben bewaffnet werden. Allerdings wird sie in erster Linie zur Aufklärung benutzt, über Kamikaze-Einsätze ist nichts bekannt.

Spekulationen über neuartige US-Drohne

Es könnte aber auch sein, dass hier die geheimnisvolle Phoenix Ghost ihr Debüt gegeben hat. Bereits vor zwei Monaten haben die USA die Lieferung des neuartigen Drohnentyps an die Ukraine bekannt gegeben, der extra an die Bedürfnisse des ukrainischen Militärs angepasst sein soll. «In Gesprächen mit den Ukrainern über ihre Anforderungen waren wir der Meinung, dass dieses spezielle System sehr gut für ihre Bedürfnisse geeignet wäre, insbesondere in der Ostukraine», sagte Pentagon-Sprecher John Kirby Ende April dazu.

Dass es sich um eine der hundert aus den USA gelieferten Switchblade-Drohnen gehandelt haben könnte, ist eher unwahrscheinlich. Zwar gehört auch dieser Drohnentyp zur Kategorie der loitering munition, als Mini-Drohne verfügt sie aber nur über eine geringe Reichweite. Bleibt die Vermutung, dass die Ukraine ein kommerzielles chinesisches Fabrikat für militärische Zwecke weiterentwickelt hat.

Von den Möglichkeiten moderner Kamikaze-Drohnen erfuhr eine breitere Öffentlichkeit erst im Karabach-Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien im Herbst 2020 sowie dem Bürgerkrieg in Syrien. Spätestens mit dem Krieg in der Ukraine dürfte es zur Gewissheit geworden sein: Drohnen sind das Kriegsgerät der Stunde.