Bomben als Wahlhelfer Operation unter falscher Flagge? Hat Putin an die Macht gebracht

Von Philipp Dahm

8.5.2023

Drohnen-Angriffe auf den Kreml und Russen in ukrainischen Uniformen: Immer wieder wird Moskau vorgeworfen, unter falscher Flagge zu agieren. Putin hat damit Erfahrung: 1999 kam er durch Bomben an die Macht.

Von Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Im Krieg in der Ukraine werden Russland immer wieder Operationen unter falscher Flagge vorgeworfen.
  • Es wird befürchtet, eine solche Operation könnte angeordnet werden, um das Volk gegen einen Gegner zu einen.
  • 1999 hat eine Reihe von Anschlägen in Russland Wladimir Putin bekannt gemacht und ins Präsidentenamt gehievt.
  • Drei der Anschläge mit Hunderten Toten sollen auf das Konto des FSB gehen, dessen Chef Putin war, bevor er Ministerpräsident wurde.

Der Begriff der «false flag operation» fällt im Zusammenhang mit Russland zuletzt häufig. Ob es nun um die Zerstörung der Nord-Stream-Pipeline geht, um russische Soldaten in den Regionen Brjansk und Kursk, die ukrainische Uniformen erhalten haben, oder um die Drohnen-Attacke auf den Kreml: Immer wieder wird Moskau vorgeworfen, falsch zu spielen.

Der Tenor ist dabei stets derselbe: Es wird befürchtet, Russland inszeniere einen Angriff auf die Heimat, um die Reihen in der Bevölkerung zu schliessen. Wer nun meint, das sei unglaubwürdig oder übertrieben, weiss nicht, wie Putin an die Macht gekommen ist.

Zur Erinnerung: 1999 sterben bei mehreren Bomben-Explosionen mindestens 300 Menschen, und Tausende werden verletzt. Die Attentate lösen den Zweiten Tschetschenienkrieg aus und machen aus dem unbekannten Wladimir Putin einen Spitzenpolitiker.

Doch dann kommen Zweifel auf: Steckt vielleicht doch der Inlandgeheimdienst FSB dahinter? Eine parlamentarische Untersuchungskommission wird von der Regierung nicht nur behindert – viele beteiligte Duma-Abgeordnete sterben unter obskuren Umständen.

Putin – der neue Premier, den kaum einer kennt

Rückblick: Mitte August 1999 steht Wladimir Putin unter Zugzwang. Der St. Petersburger, der zuvor Chef des FSB war, ist zum Premier ernannt worden, doch die Duma bestätigt ihn nur knapp. Er bekommt 7 Stimmen mehr als die erforderlichen 226. Putin verspricht «einen durchsetzungsfähigen Staat mit starker Polizei und Armee», schreibt damals der «Tagesspiegel».

Ministerpräsident Wladimir Putin (links) und Sergei Schoigu, damals Minister für Notlagen, am 28. Dezember in Moskau.
Ministerpräsident Wladimir Putin (links) und Sergei Schoigu, damals Minister für Notlagen, am 28. Dezember in Moskau.
KEYSTONE

Der 46-Jährige ist der Wunschkandidat von Präsident Boris Jelzin für seine Nachfolge, doch das erste demokratisch gewählte Staatsoberhaupt ist selbst extrem unpopulär – und Putin im Volk noch ein Unbekannter. Er hat bis zum 26. März Zeit, sich zu profilieren, wenn der Präsident gewählt wird.

Ein Anlass dazu ist der Dagestankonflikt: Anfang August 1999 sind dort – je nach Quelle – zwischen 400 und 2000 tschetschenische Freischärler eingefallen, um eine Islamische Republik zu errichten. Ihre Anführer, der Tschetschene Schamil Bassajew und der Saudi Ibn al-Chattab sind es, die nach Moskaus Darstellung nun eine tödliche Anschlagsserie planen.

Vier Anschläge und ein Tschetschenienkrieg

Sie beginnt bereits am 31. August, als eine Bombe in einer Moskauer Einkaufspassage eine Person tötet und 40 verletzt. Dann knallt es wieder: Am 4. September sprengt eine Autobombe ein mehrstöckiges Wohnhaus in Buinaksk in Dagestan, in dem russische Militärs und ihre Angehörigen wohnen. Es gibt 164 Verletzte und 64 Tote – davon 23 Kinder. 

Am 8. September 1999 kostet eine Explosion in Moskau Dutzende Menschenleben
Am 8. September 1999 kostet eine Explosion in Moskau Dutzende Menschenleben
KEYSTONE

Nur vier Tage später erreicht der Bombenterror Moskau, wobei der Sprengstoff Hexogen verwendet wird. Das gilt auch für das Attentat fünf Tage später. Die beiden Explosionen in Moskau fordern 212 Opfer, 350 Menschen werden verletzt. Die Angriffe auf Wohnhäuser lösen Angst und Bestürzung aus – und Putin handelt, nachdem eine Bombe am 16. September in Wolgodonsk wieder 17 Personen tötet.

Zerstörte Gebäude in Wolgodonsk am 16. September 1999.
Zerstörte Gebäude in Wolgodonsk am 16. September 1999.
Gemeinfrei

Er entfesselt den Zweiten Tschetschenienkrieg, obwohl es von einem fragwürdigen Bekenner-Anruf keine Belege dafür gibt, dass die Moskauer Anschläge auf das Konto entsprechender Separatisten geht. Doch der Sündenbock steht fest, und es gilt ohnehin, für den verlorenen ersten Krieg Rache zu nehmen: Putin kann nun den starken Mann geben. 

FSB: Alles bloss Übung

Zweifel kommen nach dem letzten Vorfall auf, der sich am 22. September in Rjasan ereignet: Die Bewohner eines 13-stöckigen Hochhauses beobachten, wie zwei Männer Säcke im Keller deponieren. Die Polizei und ein Sprengstoff-Kommando entdecken eine Bombe, einen Timer, der auf 5:30 Uhr gestellt ist – und mit einem Detektor auch Hexogen.

Doch als das Duo geschnappt wird, entpuppen sie sich als FSB-Agenten und werden auf Anweisung Moskaus freigelassen. Der Geheimdienst deklariert den Vorfall als Übung, bei der bloss Zucker verwendet worden sei. Die Bomben-Experten aus Rjasan widersprechen. Auch die Aussage, ihr Detektor müsse defekt sein, lassen sie nicht gelten.

Der Antrag, diesen Vorfall parlamentarisch zu untersuchen, wird zweimal in der Duma abgewiesen. Vier Abgeordnete bilden eine unabhängige Kommission. Ihr Leiter Sergei Juschenkow glaubt wie sein Kollege Juri Schtschekotschichin, dass der FSB hinter den Anschlägen steckt. Ihre Anfragen werden jedoch ignoriert, der Ausschuss löst sich auf.

Zweifler sterben wie die Fliegen

Juschenkow wird am 17. April 2003 vor seiner Moskauer Wohnung von einem Unbekannten erschossen. Schtschekotschichin, ein Kritiker des Tschetschenienkrieges, stirbt am 3. Juli 2003 in Moskau unter ungeklärten Umständen. Otto Latsis, ebenfalls Mitglied des Ausschusses, wird im November 2003 brutal zusammengeschlagen.

Ausschuss-Mitglied Michail Trepaschkin hat auf einer Phantom-Zeichnung eines Mannes, der die Keller in Moskau angemietet hat, den FSB-Agenten Wladimir Romanowitsch erkannt, der bald darauf auf Zypern bei einem Autounfall stirbt. Der frühere KGB-Mann Trepaschkin wird im Oktober 2003 verhaftet und ein Jahr später wegen angeblichen Geheimnisverrats an Grossbritannien zu vier Jahren Haft verurteilt.

Was stutzig macht: Duma-Sprecher Gennadi Selesnjow berichtet angeblich bereits am 13. September vom Attentat in Wolgodonsk, das aber erst drei Tage später stattfindet. Journalisten aus den USA, Deutschland und Frankreich sammeln fortan Belege für eine Beteiligung des FSB an den Anschlägen in Moskau und Wolgodonsk.

Auch im Exil sind Russen nicht sicher

Für Russen bleibt das Thema tödlich. Der frühere russische Agent Alexander Litwinenko schreibt das Buch «Der FSB sprengt Russland in die Luft», in dem er die Anschuldigungen aufgreift. Er wird 2006 in London vergiftet. Der Oligarch Boris Beresowski unterstützt die Verfilmung: Er stirbt 2013 unter ungeklärten Umständen ebenfalls im britischen Exil.

Für Putin sind die Attentate der Treibstoff, mit dem er durchstartet: Seine Reaktion bringt ihm im März 2000 mit 52,9 Prozent das Präsidentenamt ein – und seither lässt er nicht mehr von der Macht. Ein Rückschlag in der Ukraine würde seinen Status jedoch bedrohen.

Wie soll der mittlerweile 70-Jährige dem Volk einen etwaigen Einbruch an der südlichen Flanke oder gar einen Verlust der Krim erklären? Der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow rechnet im Ernstfall mit einem vorgetäuschten Angriff, um die Reihen zu schliessen – beispielsweise auf ein russisches Kraftwerk.

Unvorstellbar ist das nicht.