Vater mit NS-Vergangenheit Spitzenkandidat in Chile unter Druck

AP/toko

11.12.2021 - 00:00

Der deutschstämmige Rechtsaussen-Kandidat José Antonio Kast kam in der ersten Runde der Wahl um das chilenische Präsidentenamt auf gut 28 Prozent der Stimmen.
Der deutschstämmige Rechtsaussen-Kandidat José Antonio Kast kam in der ersten Runde der Wahl um das chilenische Präsidentenamt auf gut 28 Prozent der Stimmen.
Esteban Felix/AP/dpa

Neue Wendung im hitzigen chilenischen Wahlkampf: Der Vater von José Antonio Kast war offenbar Mitglied der NSDAP. Profitiert davon der Rivale im Rennen um das Präsidentenamt?

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Der Favorit für das Präsidentenamt in Chile gerät wegen der Nazi-Vergangenheit seines Vaters unter Druck. Laut einem kürzlich entdeckten Dokument, das der Nachrichtenagentur AP vorliegt, war der Vater des deutschstämmigen Rechtspopulisten José Antonio Kast Mitglied der NSDAP. Die Information scheint im Widerspruch zu stehen zu Aussagen des Kandidaten selbst über den Wehrdienst seines Vaters im Zweiten Weltkrieg.

Die deutschen Behörden bestätigten in dieser Woche, dass im Bundesarchiv eine Karteikarte auf den Namen Michael Kast vorliegt. Demnach war der damals 18-Jährige am 1. September 1942 in die NSDAP eingetreten. Das Bundesarchiv konnte zwar nicht bestätigen, dass es sich um den Vater des chilenischen Präsidentschaftskandidaten handelt. Allerdings stimmen Geburtsdatum und -ort mit den Daten von Kasts Vater überein, der 2014 starb. Eine Kopie des Ausweises mit der Mitgliedsnummer 92711831 hatte am 1. Dezember bereits der chilenische Journalist Mauricio Weibel in sozialen Medien gepostet.



Kampf der Extreme

Die Nachricht gibt der brisanten Stichwahl um das Präsidentenamt eine neue Wendung. Beide Seiten stellen das Rennen als einen Kampf der Extreme dar – zwischen Kommunismus und Freiheit oder auch zwischen Autoritarismus und Demokratie – je nach Standort. Der Wahlkampf ist geprägt von einem beständigen Strom an Desinformationen gegen Kasts Rivalen Gabriel Boric. Im ersten Wahlgang im November hatte der 55-jährige Kast von der neu gegründeten Republikanischen Partei zwei Punkte vor dem linken Abgeordneten Boric gelegen. Beide treten nun am 19. Dezember in der Stichwahl gegeneinander an.

Kasts Familie hatte enge Verbindungen zur Militärdiktatur von General Augusto Pinochet, die 1973 nach einem Putsch an die Macht gekommen war. Der Bruder des Politikers, Miguel Kast, diente als Zentralbankpräsident unter dem Diktator. «Wenn er noch am Leben wäre, hätte er mich gewählt», sagte José Antonio Kast in seinem Wahlkampf 2017 über Pinochet. Damals hatte er lediglich acht Prozent der Stimmen erhalten.

Chilenischer Trump?

In diesem Jahr setzt der Katholik und neunfache Vater im Wahlkampf auf konservative Familienwerte, macht Migranten aus Haiti und Venezuela für die Kriminalität in Chile verantwortlich und bezeichnet Boric als Marionette chilenischer Kommunisten. Er punktete bei Wählern aus der Mittelklasse, die befürchten, dass Boric, ein ehemaliger Führer von Studentenprotesten, drei Jahrzehnte der wirtschaftlichen und politischen Stabilität zunichtemachen könnte.

Venezolanische Migranten reisen aus Bolivien ein. Kast macht Migranten aus Haiti und Venezuela für die Kriminalität in Chile verantwortlich.
Venezolanische Migranten reisen aus Bolivien ein. Kast macht Migranten aus Haiti und Venezuela für die Kriminalität in Chile verantwortlich.
AP Photo/Matias Delacroix/Keystone

In den jüngsten Umfragen für die Stichwahl führt Boric mit leichten Vorsprung. Er schwenkte zuletzt in die politische Mitte, um für Wählerinnen und Wähler attraktiv zu werden, die Angst vor einer Rückkehr zur turbulenten Vergangenheit Chiles haben.

Die mutmassliche NS-Vergangenheit von Kasts Vater unterstütze nun Borics Darstellung «des Rennens als Gegensatz zwischen Faschismus und Demokratie», sagt die Chile-Expertin Jennifer Pribble von der Universität Richmond im US-Staat Virginia. Dieses Narrativ werde dadurch gestützt, «dass Kast einen Teil seiner Familiengeschichte zu verheimlichen scheint».

Ob Kast von dem NSDAP-Mitgliedsausweis seines Vaters wusste, ist unklar. Eine Sprecherin seines Wahlkampfteams wollte sich auf mehrfache Nachfrage nicht dazu äussern. In der Vergangenheit hat Kast aber Behauptungen, sein Vater habe die Nazis unterstützt, aggressiv zurückgewiesen. Stattdessen betonte er, sein Vater sei zum Wehrdienst zwangseinberufen worden.

Mitgliedschaft in der NSDAP war freiwillig

Hinweise darauf, dass Michael Kast im Zweiten Weltkrieg an Gräueltaten beteiligt war, liegen nicht vor. Doch während der Wehrdienst verpflichtend war, war die Mitgliedschaft in der NSDAP freiwillig. Es gebe kein einziges Beispiel für einen erzwungenen Parteieintritt, sagt der deutsche Historiker Armin Nolzen.

Michael Kast hatte sich der Partei 1942 fünf Monate nach seinem 18. Geburtstag angeschlossen, dem Mindestalter für eine Mitgliedschaft. Zuvor war er nach Angaben von Nolzen vermutlich mindestens vier Jahre lang Mitglied der Hitler-Jugend. Insgesamt hatte die Partei in jenem Jahr 7,1 Millionen Mitglieder – etwa ein Zehntel der Bevölkerung.

Michael Buddrus vom Leibniz-Institut für Zeitgeschichte in Berlin warnt davor, die Bedeutung einer NSDAP-Mitgliedschaft bei derart jungen Menschen zu überschätzen. Da Kast wenig später eingezogen worden sei, habe er möglicherweise nie aktiv an einer Parteiveranstaltung teilgenommen oder Mitgliedsbeiträge bezahlt.

«Ein Parteimitglied ist ein Parteimitglied»

Richard Wetzell vom Deutschen Historischen Institut in Washington sieht das anders. «Ein Parteimitglied ist ein Parteimitglied», sagt der Forscher. «Wer Mitglied der Partei war, war an diese und ihre Ideologie gebunden, selbst wenn viele womöglich nur aus rein opportunistischen Gründen eingetreten sind.»

In einem Buch des chilenischen Journalisten Javier Rebolledo von 2015 hiess es, Michael Kast habe sich nach anfänglichem Zögern von einem Partei-Eintritt überzeugen lassen. Am Kriegsende habe er sich in Italien einen falschen Ausweis als Mitglied des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz besorgt, heisst es in dem Buch unter Berufung auf eine Autobiografie von Kasts Frau.

Kast sei zwei Mal einer Festnahme durch die Alliierten entgangen, nach Deutschland zurückgekehrt und während der Entnazifizierung entdeckt worden, heisst es in dem Buch weiter. Als er seinen Betrug zugegeben habe, habe ein Staatsanwalt als Anerkennung für die Ehrlichkeit Kasts Militärunterlagen verbrannt. 1950 wanderte Kast nach Chile ein. Sein Sohn warf Rebolledo vor, die Erinnerungen seiner Mutter aus dem Zusammenhang gerissen und Tatsachen verzerrt zu haben.