Virus-Mutation Millionen Londoner müssen zu Hause bleiben

dpa/toko

20.12.2020 - 10:36

Millionen Menschen müssen in London und Südostengland an Weihnachten zu Hause bleiben. Die Regierung hat die Restriktionen deutlich verschärft – der Grund ist eine Mutation des Coronavirus.

In London und anderen Gegenden in Südostengland gilt seit der Nacht zum Sonntag wieder ein harter Shutdown mit Ausgangssperren. Grund ist die rasche Ausbreitung einer neuen Variante des Coronavirus.

Insgesamt sind etwa 16,4 Millionen Menschen von den Verschärfungen betroffen, knapp ein Drittel der Bevölkerung von England. Sie dürfen auch über Weihnachten keine Mitglieder anderer Haushalte treffen. «Als Premierminister ist es meine Pflicht, schwierige Entscheidungen zu treffen und zu tun, was getan werden muss, um die Menschen in diesem Land zu schützen», betonte Regierungschef Boris Johnson am Samstagabend auf Twitter.

Er hatte noch vor kurzem Forderungen von Wissenschaftlern und der Opposition abgelehnt, härtere Massnahmen über die Feiertage in Kraft zu setzen. Nun müssen Millionen Menschen doch alleine feiern. «Wir opfern die Möglichkeit, unsere Lieben dieses Weihnachten zu sehen, damit wir eine bessere Chance haben, ihr Leben zu schützen, damit wir sie an künftigen Weihnachten sehen können», sagte Johnson.

70 Prozent ansteckender

Der Premier warnte, die neue Variante VUI2020/12/01 des Coronavirus breite sich rasch aus. Die Mutation sei um bis zu 70 Prozent ansteckender als die bisher bekannte Form. Viele Kliniken in Südostengland sind so gut wie vollständig ausgelastet, vielerorts wurden nicht notwendige Operationen verschoben. Johnson betonte, es gebe aber weder Hinweise darauf, dass Impfstoffe weniger effektiv gegen die neue Corona-Variante seien, noch darauf, dass die Krankheit schwerer verlaufe oder es mehr Todesfälle gebe.

Reisende warten am letzten Samstag vor Weihnachten in der Bahnhofshalle der Londoner Paddington Station. In London und anderen Gegenden in Südostengland gilt seit der Nacht zum Sonntag wieder ein harter Shutdown mit Ausgangssperren.
Reisende warten am letzten Samstag vor Weihnachten in der Bahnhofshalle der Londoner Paddington Station. In London und anderen Gegenden in Südostengland gilt seit der Nacht zum Sonntag wieder ein harter Shutdown mit Ausgangssperren.
Stefan Rousseau/PA/dpa

Um auf Nummer sicher zu gehen, wird das soziale Leben in weiten Teilen des Landes heruntergefahren. In London und anderen Regionen in Südostengland gilt künftig die neue höchste Corona-Warnstufe 4. Dort dürfen die Menschen nur noch aus wichtigen Gründen ihre Wohnung verlassen, etwa, um zum Arzt oder zur Arbeit zu gehen. Alle nicht lebensnotwendigen Geschäfte sowie wie Fitnessstudios, Friseure, Kinos oder Schönheitssalons müssen schliessen. Die Einwohner dürfen diese Zone nicht verlassen.

Bisher gab es in England drei Stufen. Geplant war, dass sich vom 23. bis 27. Dezember landesweit bis zu drei Haushalte zu festen «Weihnachtsblasen» zusammenschliessen können. Dies wurde nun – ausserhalb der Zone 4 – auf den ersten Weihnachtstag beschränkt. Auch die anderen Landesteile verschärften die Regeln deutlich. In Wales mit mehr als 3,1 Millionen Einwohnern gilt ebenfalls ein harter Shutdown, Schottland hat Reisen in andere Regionen verboten. Ob auch Nordirland neue Massnahmen einführt, war noch unklar. Dort hatten sich zuletzt wegen der hohen Zahlen an Neuinfektionen Krankenwagen vor Notaufnahmen gestaut, Ambulanzen aus dem benachbarten EU-Staat Irland halfen aus.

Bürgermeister: Londoner verärgert

Londons Bürgermeister Sadiq Khan hat Verständnis für den neuen coronabedingten Shutdown der britischen Hauptstadt gezeigt, die kurzfristige Anordnung aber scharf kritisiert. «Es ist das Hin und Her, das zu so viel Angst, Verzweiflung, Traurigkeit und Enttäuschung führt», sagte Khan am Sonntag der BBC. «Wenn wir unsere Meinung immer wieder ändern, macht es das Leuten wie mir wirklich schwer, die Menschen zu bitten, uns zuzuhören.» Die Ankündigung «auf den letzten Drücker» sei ein schwerer Schlag für Familien und Unternehmen, sagte Khan. Die Massnahmen seien allerdings korrekt, «sie folgen dem Rat von Wissenschaft und Medizin».

Grossbritanniens Premier verkündet strenge Ausgangsbeschränkungen während der Weihnachtstage.
Grossbritanniens Premier verkündet strenge Ausgangsbeschränkungen während der Weihnachtstage.
dpa

Nach Bekanntgabe der schärferen Massnahmen machten sich zahlreiche Menschen spontan auf, um die Gegend zu verlassen. Auf Fotos und Videos waren volle Bahnhöfe zu sehen. «Was Sie gestern gesehen haben, war eine direkte Folge der chaotischen Art und Weise, wie die Ankündigung gemacht wurde», sagte Khan.

Er habe Verständnis, dass Menschen in letzter Sekunde, bevor die Reiseverbote greifen, zu ihren Familien reisen wollen. «Aber es ist falsch», sagte Khan. Und mit Blick auf Corona-Impfmittel ergänzte er: «Wie werden Sie sich fühlen, wenn Sie das Virus an ältere Verwandte, geliebte Menschen weitergeben, deren Leben wegen des Vakzins lang und fruchtbar sein könnte, der sich aber dadurch mit dem Virus infiziert und — Gott bewahre — stirbt?»

Teufelskreis aus Mutationen

Grossbritannien ist eines der am härtesten von der Corona-Krise getroffenen Länder Europas. Am Samstag stieg die Zahl der Infektionen um etwa 27'000 auf insgesamt mehr als zwei Millionen. Etwa 83'000 Menschen sind bisher mit oder an der Lungenkrankheit Covid-19 gestorben. Die Regierung hatte vor gut zehn Tagen mit einer Massenimpfung begonnen. Bisher haben landesweit etwa 350'000 Menschen das Mittel des Mainzer Pharmaunternehmens Biontech und dessen US-Partners Pfizer erhalten, wie Johnson sagte.

Der deutsche Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warnte vor Mutationen des Coronavirus. «Es ist sehr wahrscheinlich, dass Mutationen die Ansteckungsgefahr erhöhen», sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND, Sonntag). «Das ist ein weiterer Grund dafür, dass die zweite Welle nicht so stark werden darf. Je mehr Ansteckungen man zulässt, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass noch gefährlichere Mutationen folgen. Das ist quasi ein Teufelskreis: Mehr Ansteckungen führen zu mehr Mutationsgelegenheiten und damit zu mehr Mutationen. Diese wiederum führen zu mehr Ansteckungen. So geht es dann immer weiter.»

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