Israel Netanjahus riskantes Zweckbündnis mit den Ultraorthodoxen

AP/toko

30.1.2021 - 16:46

Eine Netanjahu-Gegnerin vor dem von Polizisten bewachten Amtssitz des Regierungschefs.
Eine Netanjahu-Gegnerin vor dem von Polizisten bewachten Amtssitz des Regierungschefs.
AP Photo/Maya Alleruzzo/Keystone

Strenggläubige Juden in Israel missachten offen die Corona-Auflagen, in ihren Gemeinden sind die Infektionszahlen besonders hoch. Das könnte sich an den Wahlurnen negativ für Netanjahu auswirken – der eigentlich mit seiner Impfkampagne punkten will.

Im Bemühen um seine Wiederwahl setzt Benjamin Netanjahu auf eine zweigleisige Strategie: Er zählt auf die felsenfeste Unterstützung seiner ultraorthodoxen Verbündeten und bekämpft zugleich die Corona-Pandemie mit einer der aggressivsten Impfkampagnen weltweit.

Doch die Zweckallianz mit den streng konservativen Juden wird nun zur Last für den israelischen Ministerpräsidenten. Denn die Charedim setzen sich offen und teils gewaltsam über Corona-Schutzregeln hinweg. So untergraben Netanjahus politische Partner den Kampf gegen das Virus und fachen einen öffentlichen Widerstand an, der dem Regierungschef bei der Wahl gefährlich werden könnte.



«Netanjahu hofft, dass Israel als erstes Land der Welt geimpft sein wird, dass er die Wirtschaft für alle öffnen kann, Ultraorthodoxe und Säkulare, und dass das Problem in Vergessenheit gerät», erklärt der Wahlkampfstratege Mosche Klughaft, ein früherer Berater Netanjahus. Wenn die aktuellen Konflikte anhielten, drohten Netanjahu aber grosse Schwierigkeiten.

Ein Viertel der Bevölkerung in einem Monat geimpft

Weniger als zwei Monate vor der Wahl am 23. März steckt Israel in einer paradoxen Situation. In nur einem Monat wurden von den 9,3 Millionen Einwohnern mehr als ein Viertel gegen Corona geimpft. Bis zum Wahltag soll die gesamte erwachsene Bevölkerung das Vakzin erhalten halten. Zugleich hat das Land eine der höchsten Infektionsraten in der entwickelten Welt: Täglich werden rund 8 000 neue Fälle gemeldet. Vor wenigen Tagen verschärfte die Regierung den seit einem Monat geltenden Lockdown weiter, indem sie den internationalen Flughafen fast vollständig stilllegte. Geschäfte, Schulen und Restaurants waren bereits zuvor geschlossen worden.

Für die anhaltend hohen Infektionszahlen gibt es mehrere Gründe. Vor der Schliessung des Flughafens hatten aus dem Ausland zurückkehrende Israelis gefährliche Mutationen des Virus ins Land gebracht. Auch andere Teile der Gesellschaft halten sich nicht an die Schutzmassnahmen. Doch ohne Zweifel spielen die Ultraorthodoxen eine entscheidende Rolle. Ihre Schulen sind weiter offen, die Synagogen voll, riesige Hochzeitsfeiern und Beerdigungen finden weiter statt.

Impfraten Orthodoxer gering

Experten schätzen, dass die Charedim, die etwa zwölf Prozent der israelischen Bevölkerung ausmachen, für 40 Prozent der neuen Covid-19-Fälle verantwortlich sind. Die Impfraten in ultraorthodoxen Gemeinden sind offiziellen Daten zufolge deutlich geringer als im übrigen Land.

Politisch üben die Ultraorthodoxen schon lange einen überproportionalen Einfluss in Israel aus. Sie nutzen ihren Status als Königsmacher im Parlament, um die Regierung zu Zugeständnissen zu bewegen. Ultraorthodoxe Männer sind vom ansonsten verpflichtenden Militärdienst ausgenommen. Die Schulen der Gemeinde erhalten grosszügige staatliche Subventionen, obwohl sie sich fast ausschliesslich auf Religionsunterricht konzentrieren und wichtige Fächer wie Mathematik, Englisch und Naturwissenschaften nicht anbieten. Als Erwachsene gehen viele ultraorthodoxe Männer keiner Arbeit nach, sondern beziehen Sozialhilfe und studieren an religiösen Lehranstalten.



Bei der säkularen Mehrheit im Land stösst dieses System seit langem auf Ablehnung. Ökonomen warnten immer wieder davor, dass es auf Dauer nicht haltbar sei. Doch die politische Führung zeigt sich kaum zu Änderungen bereit. Indem Netanjahu das Geld an die Charedim weiter fliessen lässt, kann er meist auf verlässliche Verbündete zählen.

Explodierende Corona-Zahlen

Die Unterstützung der Ultraorthodoxen ist entscheidend für das Bemühen des seit zwölf Jahren amtierenden Ministerpräsidenten, eine Mehrheitskoalition zu schmieden. Netanjahu hofft auf Immunität vor Strafverfolgung wegen Korruptionsvorwürfen.

Doch die explodierenden Corona-Zahlen in Kombination mit den gewaltsamen Protesten brachten unerwünschte Aufmerksamkeit. In den vergangenen Tagen griffen grosse Gruppen von ultraorthodoxen Demonstranten, viele von ihnen ohne Maske, Polizisten und Journalisten an. In der überwiegend ultraorthodoxen Stadt Bnei Brak gab ein Polizist Warnschüsse in die Luft ab, um Angreifer abzuwehren. Am selben Abend setzten dort Demonstranten einen Bus in Brand. «Israel erlebt einen charedischen Aufstand, der den Kampf gegen Covid verhindert», schrieb der Chefredakteur der Zeitung «Jerusalem Post», Jaakow Katz.

Ultraorthodoxe beklagen, dass ihre Gemeinden zu Unrecht beschuldigt würden und eine kleine Minderheit für die Probleme verantwortlich sei. Die beengten Wohnverhältnisse und grossen Familien seien die Hauptgründe für die hohen Infektionsraten.

«Es gibt keinen Lockdown»

Der prominente ultraorthodoxe Anwalt und Kommentator Dov Habertal ruft jedoch zur Selbstreflexion auf. Verstösse gegen die Corona-Auflagen seien weitverbreitet, sagte er in einem Fernsehinterview: «Es gibt keinen Lockdown. Das ist eine grosse Lüge.» Synagogen und rituelle Bäder seien geöffnet, Vorlesungen von Rabbinern und Hochzeiten fänden weiter statt.

Netanjahu jedoch ist bislang offenbar nicht willens oder in der Lage, gegen seine Verbündeten vorzugehen. Als er kürzlich auf die Unruhen angesprochen wurde, sagte er lediglich, er habe versucht, deswegen einen einflussreichen Rabbiner anzurufen, diesen jedoch nicht erreicht.

Diese von vielen als schwach wahrgenommene Haltung beginnt Netanjahus Rivalen in die Hände zu spielen. So stiegen die Beliebtheitswerte von Oppositionsführer Jair Lapid zuletzt. Seine gemässigte Partei Jesch Atid kommt Umfragen zufolge zwar auf Platz zwei hinter Netanjahus Likud-Block, hätte aber womöglich bessere Chancen, eine Koalition zu bilden. Mehr als 60 Prozent der Israelis wünschen sich laut einer Erhebung eine neue Regierung ohne ultraorthodoxe Parteien. «Wir werden diesem Wahnsinn ein Ende bereiten», schrieb Lapid auf Twitter. «Mit uns wird es ein Gesetz für alle geben.»

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