Netanjahu verprellt Verbündete Nach sechs Monaten Krieg steht Israel zunehmend isoliert da

Von Josef Federman, AP

6.4.2024 - 16:13

Protest im eigenen Land gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu.
Protest im eigenen Land gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu.
Bild: Leo Correa/AP/dpa

Nach dem Terrorangriff der Hamas war die internationale Solidarität gross. Doch mit seinem Vorgehen im Gazastreifen, das die Zivilbevölkerung hart trifft, stösst Israel zunehmend auch Verbündete vor den Kopf.

DPA, Von Josef Federman, AP

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  • Nach dem Terrorangriff der Hamas im Oktober 2023 solidarisierten sich grosse Teile der internationalen Welt mit Israel.
  • Sechs Monate später ist die Bevölkerung Israels ob des militärischen Vorgehens von Regierungschef Netanjahu gespalten.
  • Auch die internationale Kritik an Netanjahus Kriegsführung wird immer lauter.

Als Israel der militant-islamistischen Hamas nach deren beispiellosem Terrorangriff im Oktober den Krieg erklärte, stand die Bevölkerung geeint hinter diesem Schritt, und auch international war die Unterstützung gross. Sechs Monate später sieht es anders aus: Der Konflikt im Gazastreifen scheint festgefahren, die Bevölkerung ist in zwei Lager gespalten, Israel international isoliert und zunehmend uneins mit seinem engsten Verbündeten, den USA. Hinzu kommt die Gefahr, dass sich der Konflikt auf die gesamte Region ausdehnt.

Eine Frau weint bei einer Beerdigung der Opfer, die am 17. Oktober 2023 bei dem Überraschungsangriff der islamischen Widerstandsbewegung Hamas in Gan Yavne im Süden Israels getötet wurden.
Eine Frau weint bei einer Beerdigung der Opfer, die am 17. Oktober 2023 bei dem Überraschungsangriff der islamischen Widerstandsbewegung Hamas in Gan Yavne im Süden Israels getötet wurden.
Archivbild: IMAGO/Xinhua

Trotz des harten militärischen Vorgehens Israels ist die Hamas nicht besiegt, wenn auch geschwächt. Die Offensive hat im Gazastreifen zu einer humanitären Krise geführt: Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung wurden aus ihrem Zuhause vertrieben, mehr als eine Million Menschen leiden Hunger. Eine auch für seine Partner akzeptable Nachkriegsvision hat Israel bislang nicht präsentiert, Verhandlungen über eine Waffenruhe sind ins Stocken geraten.

Hier sind sechs Erkenntnisse aus den sechs Kriegsmonaten:

- Patt auf dem Schlachtfeld

Israel reagierte mit seiner Kriegserklärung auf den Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober, bei dem die Gruppe und mit ihr verbündete Extremisten im Süden Israels 1200 Menschen töteten und etwa 250 weitere verschleppten. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu legte zwei Kriegsziele fest: die Hamas zu zerstören und die Geiseln nach Hause zu bringen. Beides wurde bislang nicht erreicht.

Auf diesem Foto eines Videos attackiert ein bewaffneter Mann von hinten einen blutenden Mann während eines Angriffs von militanten Hamas-Kämpfern auf dem Tribe of Nova Trance Musikfestival in der Nähe des Kibbuz Reim.
Auf diesem Foto eines Videos attackiert ein bewaffneter Mann von hinten einen blutenden Mann während eines Angriffs von militanten Hamas-Kämpfern auf dem Tribe of Nova Trance Musikfestival in der Nähe des Kibbuz Reim.
Archivbild: Uncredited/South First Responders/AP

In einer blutigen Offensive eroberten israelische Truppen weite Teile des Gazastreifens. Unklar ist, ob die Armee auch nach Rafah ganz im Süden des Küstengebiets einmarschieren wird, der laut Israel letzten bedeutenden Hamas-Hochburg. Netanjahu hat das wiederholt angekündigt, stösst damit aber international auf massive Kritik. Denn in der Stadt haben Hunderttausende Palästinenser Zuflucht vor den Kämpfen weiter nördlich gesucht. Und selbst wenn Israel in Rafah einmarschiert, ist das keine Garantie für einen langfristigen Erfolg: In Gebieten, aus denen sich Israel zurückzog, konnte sich die Hamas wieder neu formieren.

Israelische Soldaten gehen zwischen zerstörten Häusern.
Israelische Soldaten gehen zwischen zerstörten Häusern.
Archivbild: HO/Israel Defense Forces/AP/dpa

Zugleich konnte Israel an der nördlichen Grenze die täglichen Angriffe der proiranischen Hisbollah-Miliz aus dem Libanon nicht stoppen. Diese verfügt weiterhin über ein grosses Waffenarsenal. Das Schicksal Zehntausender wegen der drohenden Angriffsgefahr aus ihren Siedlungen auf beiden Seiten der Grenze vertriebenen Zivilisten hängt in der Luft. Die Spannungen drohen, den Iran mit in den Konflikt hineinzuziehen, insbesondere nachdem diese Woche bei einem Israel zugeschriebenen Luftangriff in Syrien zwei iranische Generäle getötet wurden.

- Wachsende Isolierung

Nach dem Massaker vom 7. Oktober, dem verheerendsten Angriff auf Juden seit dem Holocaust, erhielt Israel international viel Unterstützung. Doch inzwischen macht sich angesichts der Lage im Gazastreifen Empörung über Israel breit. Mehr als 33’000 Palästinenser wurden nach Angaben des der Hamas unterstehenden Gesundheitsministeriums bislang in dem Krieg getötet, etwa zwei Drittel von ihnen Frauen und Kinder. Hilfsorganisationen zufolge leidet rund ein Drittel der Bevölkerung an Hunger. Auch Verbündete Israels fordern inzwischen eine Waffenruhe.

Der Internationale Gerichtshof forderte Israel Ende Januar auf, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um Zivilisten im Gazastreifen besser zu schützen. Am 25. März verabschiedete der Weltsicherheitsrat gegen den Widerstand Israels eine Resolution, mit der eine sofortige Waffenruhe gefordert wurde – und die USA verzichteten auf ein Veto.

Biden warnt Netanjahu – und droht mit Konsequenzen

Biden warnt Netanjahu – und droht mit Konsequenzen

Der tödliche Angriff auf humanitäre Helfer im Gazastreifen sorgte weltweit für Empörung. Nun hat US-Präsident Joe Biden den israelischen Premierminister Netanjahu vor Konsequenzen gewarnt, sollte Israel den Schutz von Zivilisten nicht erhöhen.

06.04.2024

Seitdem geriet Israel nur noch mehr unter Druck, insbesondere nach einem Luftangriff, bei dem Anfang der Woche sieben Mitarbeiter der Hilfsorganisation World Central Kitchen getötet wurden. Israel erklärte, es habe sich um einen fehlgeleiteten Angriff gehandelt. US-Präsident Joe Biden reagierte empört. Der mutmassliche israelische Angriff auf die diplomatische Vertretung Irans in Damaskus und Netanjahus Ankündigung eines Sendeverbots für den arabischen Nachrichtensender Al-Dschasira in Israel sorgten bei Verbündeten ebenfalls für Kritik.

- Spaltung innerhalb Israels

Nach einer Phase der Einigkeit zu Kriegsbeginn tun sich inzwischen erneut Risse in der Bevölkerung auf. Wöchentliche Massenproteste mit Zehntausenden Teilnehmern gegen die Regierung nehmen wieder zu. Teils sind die Kritikpunkte altbekannt: Sie reichen von Netanjahus Bündnis mit rechtsextremen und ultra-orthodoxen Parteien bis hin zu seinen Korruptionsprozessen.

Israelis versammelten sich am 2. April vor der Knesset, um gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu protestieren.
Israelis versammelten sich am 2. April vor der Knesset, um gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu protestieren.
Bild: IMAGO/ZUMA Wire

Neuen Auftrieb verschafft den Demonstrationen Netanjahus bisheriges Unvermögen, die Geiseln nach Hause zu bringen. Etwa die Hälfte von ihnen kam im November während einer einwöchigen Feuerpause frei. 134 weitere werden nach israelischen Angaben weiter im Gazastreifen festgehalten. Mehr als 30 wurden bereits für tot erklärt, und es besteht die Sorge, dass diese Zahl wächst, je länger die Geiselhaft dauert. Das Schicksal der Geiseln und die Verzweiflung ihrer Angehörigen haben in der israelischen Öffentlichkeit grossen Widerhall gefunden.

- Netanjahu erreicht nichts

Die Beliebtheit des Regierungschefs ist seit Ausbruch des Kriegs abgestürzt. Viele Menschen machen ihn für das Versagen von Geheimdiensten und Sicherheitskräften verantwortlich, das den Terrorangriff der Hamas ermöglichte. Forderungen nach seinem Rücktritt oder nach einer Untersuchung zu Versäumnissen wies er zurück. Seine Koalitionspartner, denen bei einer Wahl wohl ebenfalls Verluste drohen würden, stehen fest an seiner Seite.

Paradoxerweise hat die grösste Gefahr für Netanjahus Machterhalt nur am Rande mit dem Krieg zu tun: Das Oberste Gericht hat angeordnet, das seit langem umstrittene System der Befreiung ultra-orthodoxer Männer von der Wehrpflicht zu beenden. Da seit dem 7. Oktober bereits mehr als 600 Soldaten getötet wurden, dürfte es für Netanjahu schwer sein, das System beizubehalten.

Wenn er aber die Religiösen zum Militärdienst verpflichtet, könnte Netanjahu die Unterstützung seiner ultra-orthodoxen Partner verlieren und zu einer vorgezogenen Parlamentswahl gezwungen sein. Netanjahu habe nicht die Absicht, jemals von selbst zurückzutreten, schrieb Anschel Pfeffer, ein Kolumnist der Zeitung «Haaretz» und Autor einer Netanjahu-Biografie.

- Hamas erreicht nichts

Die israelische Offensive hat im Gazastreifen massive Zerstörungen angerichtet und der Hamas schwere Verluste zugefügt. Israel hat nach eigenen Angaben rund 13’000 Hamas-Kämpfer getötet und die militärischen Ressourcen der Gruppe in weiten Teilen des Gazastreifens zerschlagen. Selbst wenn das den Tatsachen entsprechen sollte, ist die Hamas in Rafah aber weiter intakt. Und in anderen Gebieten, in denen Israel zuvor den Sieg erklärt hat, haben sich ihre Kämpfer neu formiert. Zeichen für einen breiten Widerstand in der Bevölkerung gegen die Gruppe gibt es nicht.

Die humanitäre Lage im Gazastreifen verschlimmert sich täglich. 
Die humanitäre Lage im Gazastreifen verschlimmert sich täglich. 
Archivbild: Mahmoud Issa/dpa

Der frühere ranghohe israelische Militärgeheimdienstoffizier Michael Milshtein, inzwischen Experte für palästinensische Studien an der Universität von Tel Aviv, sagt, Israel stehe vor zwei unattraktiven Entscheidungen: ein Geisel- und Waffenruheabkommen, das ein Fortbestehen der Hamas einräumt, oder eine Intensivierung des Militäreinsatzes und eine Eroberung des Gazastreifens in der Hoffnung, dass die Hamas letztlich zerschlagen wird. Die Erwartung, dass der aktuelle israelische Ansatz die Hamas zerschlagen oder zur Aufgabe zwingen könne, sei Wunschdenken, sagt Milshtein.

- Kein Konzept für die Zeit nach dem Krieg

Über die Zukunft des Gazastreifens gibt es keinen Konsens. Netanjahu hat eine vage Vision vorgestellt, die eine unbefristete israelische Kontrolle des Gebiets vorsieht, wobei palästinensische Partner im Gazastreifen die alltäglichen Angelegenheiten verwalten sollen. Israel hofft auf eine Finanzierung des Wiederaufbaus durch die internationale Gemeinschaft, einschliesslich reicher arabischer Golfstaaten.

Diese Pläne stehen aber im Widerspruch zu Vorstellungen der USA, anderer internationaler Partner und der Palästinenser. Die USA fordern eine Rückkehr der international anerkannten Palästinensischen Autonomiebehörde, die 2007 von der Hamas aus dem Gazastreifen vertrieben wurde, und eine Wiederbelebung der Bemühungen zur Gründung eines palästinensischen Staats im Westjordanland und dem Gazastreifen.

Netanjahu lehnt einen palästinensischen Staat oder eine Rolle für die Autonomiebehörde ab. Geberländer haben wiederum wenig Neigung, ohne politischen Konsens zum Wiederaufbau beizutragen. Erfolge auf dem Schlachtfeld seien ohne eine diplomatische Vision «fast bedeutungslos», sagt der ehemalige Knesset-Abgeordnete Ofer Schelah, inzwischen Forscher am Israelischen Institut für nationale Sicherheitsstudien. Die wahre Bedrohung für die Hamas seien nicht israelische Panzer oder Kampfflugzeuge, sondern «eine Alternative zum Leben im Nachkriegs-Gaza».