Äthiopien Nach Gewalt kommt Hunger — Tigray weiter im Ausnahmezustand

AP/toko

19.1.2021 - 00:00

Bewohner der Region Tigray laden Hilfsgüter auf einen Wagen.
Bewohner der Region Tigray laden Hilfsgüter auf einen Wagen.
Catholic Relief Services/AP/KEYSTONE

Nach den Kämpfen in der äthiopischen Region Tigray treibt die Menschen vor Ort der Hunger um. Helfer bitten dringend um Unterstützung. Und dabei ist das Ausmass der Not noch gar nicht absehbar.

Um «einen einzigen Keks» sei er angebettelt worden, berichtet ein Behördenmitarbeiter aus der äthiopischen Konfliktregion Tigray. Von ausgezehrten Kindern, Not und Tod ist die Rede bei dem Krisentreffen von Regierungsvertretern und Hilfsorganisationen Anfang Januar. Mehr als 4,5 Millionen Menschen, fast die gesamte Bevölkerung von Tigray, seien auf Nothilfe angewiesen, hiess es da. Eine Woche später warnten die Behörden erneut eindringlich, dass Hunderttausende verhungern könnten, wie aus der Nachrichtenagentur AP vorliegenden Protokollen hervorgeht.

Wochenlang anhaltende Gewalt zwischen Regierungstruppen und Kämpfern der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) haben unzählige Menschen in die Flucht geschlagen. Auch die Zurückgebliebenen leiden. Felder brannten kurz vor der Ernte nieder, Hunger und Not haben sich breitgemacht. Hilfe müsse schnellstens und «extrem dringend» verstärkt werden, betont Mari Carmen Vinoles, Notfallkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen. Andere Worte fielen ihr nicht ein, um die Dringlichkeit zu unterstreichen, sagt sie. «Denn Tag für Tag sterben Menschen, auch während wir hier sprechen.»



Die ersten Helfer, die die äthiopische Regierung nach langem Zögern in die Konfliktregion vorliess, berichteten von ausgezehrten Kindern, die an Durchfall starben, weil sie Wasser aus Flüssen trinken mussten. Sie meldeten geplünderte Geschäfte und Läden, die schon längst keine Ware mehr anbieten können. Und immer noch kommt es an manchen Orten zu Kämpfen. Auch Widerstand einzelner Behördenvertreter in Tigray oder einfach nur das Ausmass der Zerstörung bremsen die Hilfsbemühungen weiter aus.

Mehr als 2000 Lkw nötig

Um 4,5 Millionen Menschen mit 15-Kilo-Lebensmittelpaketen zu versorgen, wären nach Einschätzung aus dem Krisentreffen mehr als 2000 Lkw nötig. So mancher Helfer kommt aber nur zu Fuss voran. Schon vor den Kämpfen seit Anfang November wurde die Nahrung im landwirtschaftlich geprägten Tigray knapp, nicht zuletzt aufgrund einer Heuschreckenplage in ganz Ostafrika. Dann eskalierte der Konflikt zwischen der äthiopischen Zentralregierung und der TPLF, Ministerpräsident Abiy Ahmed schickte seine Truppen in die Region.

Seitdem verloren Tausende Menschen ihr Leben, mehr als 50'000 flohen in den Sudan. Den Flüchtlingen, die zuletzt im Nachbarland ankamen, seien Hunger und Entkräftung deutlich anzusehen, berichtete jüngst ein Arzt aus dem Sudan. Von Menschen zu hören, die an den Folgen der Kämpfe und an Lebensmittelknappheit sterben, sei «tägliche Realität», schrieb kürzlich der katholische Bischof des in Tigray liegenden Bistums Adigrat.

Auf den Märkten gibt es nichts mehr

Gesundheitszentren und Krankenhäuser sind vielfach zerstört und keine Anlaufstelle mehr für Kranke und Mangelernährte. Auf den Märkten gibt es nach Angaben der Vereinten Nationen nur noch wenig oder gar nichts mehr zu essen.

Ende November erklärte Abiy den Sieg seiner Truppen über die TPLF. Dennoch sind äthiopische Soldaten und ihre Verbündeten weiter in der Region aktiv. Die Spannungen innerhalb des Vielvölkerstaates Äthiopien nahmen schon nach Abiys Amtsantritt 2018 zu. Die Tigray, zuvor an der Macht beteiligt, fühlen sich ausgebootet. Der Konflikt verschärfte sich zunehmend im Streit über Wahlen und die jeweilige Rechtmässigkeit und eskalierte schliesslich.

Zwei Millionen Flüchtlinge

Neben den über die Grenzen Geflohenen sind auch innerhalb des Landes viele auf der Flucht. Die neuen Behördenvertreter in Tigray sprechen von insgesamt mehr als zwei Millionen. Die Zahl der Menschen, die Hilfe erreicht, sei derweil «extrem niedrig», beklagen die UN.

Der Hunger sei äusserst besorgniserregend, mahnt Vinoles von Ärzte ohne Grenzen. Dazu komme der Wassermangel: Von 21 Brunnen in der 140'000-Einwohner-Stadt Adigrat seien nur noch zwei brauchbar. Weil viele Menschen gezwungen seien, aus dem Fluss zu trinken, liessen Krankheiten nicht auf sich warten. Und ausserhalb sei es noch schlimmer: «Fahren Sie zehn Kilometer vor die Stadt und es ist die absolute Katastrophe», sagt Vinoles.

Dabei können die Helfer das wahre Ausmass von Not und Leid kaum abschätzen. Bei weitem nicht alle Orte sind zugänglich, die Kommunikationswege schwach, und es dürfen auch so gut wie keine Journalisten in die Region, die ein Bild von der Lage liefern könnten. Die Sorge um die Menschen in Tigray wächst. «Wenn man nicht abseits der Hauptstrassen fahren darf, stellt man sich immer die Frage: Was ist mit den Menschen, die immer noch ausser Reichweite sind?», sagt der für Äthiopien zuständige Landesdirektor von Aktion gegen den Hunger, Panos Navrozidis.

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