Versuch mit offenem AusgangWie sinnvoll sind die Lockerungen in deutschen Modellstädten?
Von Anne Funk
8.4.2021
Mit negativem Test ist alles wie früher: Verschiedene deutsche Regionen testen die Rückkehr zur Normalität. Nicht nur Wissenschaftler zeigen sich skeptisch.
Von Anne Funk
08.04.2021, 17:15
08.04.2021, 17:26
Anne Funk
Die Vorstellung ist fast zu schön, um wahr zu sein: Entspannt bummeln in der Stadt, auf einen Kaffee im Aussenbereich eines Restaurants pausieren, in den Geschäften nach Herzenslust shoppen und den Abend im Biergarten ausklingen lassen.
Auch wenn aktuell das Wetter solchen Unternehmungen eher im Wege steht, ist vor allem Corona der Grund, warum seit Wochen, ja Monaten, viele von einem solchen Tag nur träumen können. Die Pandemie sorgt für geschlossene Läden und verwaiste Shoppingmeilen.
Anders sieht das derzeit in der deutschen Stadt Tübingen aus. Dort versucht man mit dem Modellprojekt «Öffnen mit Sicherheit», den Weg zurück zur Normalität zu finden. Seit Mitte März ist in Tübingen der Einkaufsbummel wieder möglich – vorausgesetzt, man kann einen negativen Test vorweisen.
Notbremse? Nicht in Tübingen
Die Idee klingt verheissungsvoll: Jeder, der Kultureinrichtungen, Geschäfte oder Aussengastronomie aufsuchen möchte, muss sich auf Corona testen lassen. Doch die Testphase läuft nicht wie erhofft. Während zu Beginn nur 23 Neuinfektionen pro Woche auf 100'000 Einwohner kamen, steigen die Zahlen rasant an, berichtet unter anderem der «Tages-Anzeiger». Am Donnerstag meldet das Robert-Koch-Institut für den Kreis Tübingen einen Wert von 102,3, zwischenzeitlich war er sogar noch höher.
Nach dem Beschluss von Bund und Ländern müsste aber ab einer Inzidenz von 100 eigentlich die sogenannte «Notbremse» greifen. Das bedeutet: Strengere Kontaktbeschränkungen, Detailhandel, Museen und Zoos müssen wieder schliessen.
Nicht so in Tübingen: Man hält an seinem Modellprojekt fest, allerdings nun in «modifizierter Form», wie es auf der Website der Stadt heisst. Konkret müssen Gastronomen wieder schliessen, nur noch Take-away ist möglich. Museen und Geschäfte dürfen dagegen weiterhin normal geöffnet haben, die Testpflicht bleibt aber bestehen.
Besucherinnen und Besucher müssen weiterhin ein digitales oder analoges Tagesticket vorweisen. Bereits zuvor hatte die Stadt ein solches Ticket nur noch Bürgern der Stadt und des Landkreises verfügbar gemacht, da sich zu viele Auswärtige auf den Weg nach Tübingen gemacht hatten.
Das Saarland öffnet
Auch in anderen Städten in Deutschland will man nun ähnliche Testballons starten, mit dem Saarland geht sogar ein ganzes Bundesland den Schritt in Richtung weiterer Lockerungen. Seit dem 6. April gilt das sogenannte «Saarland-Modell».
Unter der Voraussetzung der Kontaktnachverfolgung und eines negativen Tests öffnen wieder Theater, Konzerthäuser und Kinos sowie die Aussengastronomie. Ohne Test dürfen dort bis zu fünf Personen zusammen an einem Tisch sitzen, mit negativem Test maximal zehn Personen. Auch kontaktfreier Sport im Innenbereich ist wieder erlaubt, sofern ein negativer Test vorliegt.
Das Echo auf die Lockerungspläne des Saarlandes und verschiedener Städte ist durchwachsen. So erklärte Kanzlerin Angela Merkel bereits Ende März, dass sie von diesen Modellprojekten aktuell nichts halte. Die CDU-Politikerin übte in der ARD-Sendung «Anne Will» massiven Druck auf die Länder aus, um diese zum Umsetzen der Notbremse und noch schärferer Massnahmen zu bewegen.
Merkel deutete auch an, dass der Bund tätig werden könnte, wenn die Länder nicht die nötigen Massnahmen ergreifen sollten. Trotz instabiler Infektionszahlen zu öffnen, sei nicht der richtige Weg, erklärt sie weiter. «Deshalb ist das nicht der Zeitpunkt, jetzt so was ins Auge zu fassen», so die Kanzlerin.
Gefahr von verzerrter Wahrnehmung
Der Virologe Christian Drosten warnt vor vorschnellen Lockerungen im Rahmen der Modellprojekte. Sie seien «ein bisschen eine Gefahr dafür, dass sich die öffentliche Wahrnehmung verzerrt». Es könnten seiner Meinung nach «Szenarien entstehen, wo auch die Bevölkerung falsche Vorstellungen bekommt, wie die Optionen im Umgang mit der Pandemie sind», erklärt Drosten im Podcast «Coronavirus Update» von NDR Info.
Ein solches Modellprojekt birgt eine Gefahr: das Gefühl von vermeintlicher Sicherheit. Beim Start der Testphase in Tübingen wirkte es, als hätte man die Pandemie bereits besiegt, kommentiert der SWR. Vor allem fehle es an Transparenz: Zahlen, die einen Erfolg des Modells auch nur andeuten, gibt es nicht.
Was es gebe, sei Pathos und Euphorie, die zu falschen Schlüssen führen können. Selbst nachdem die Stadt bereits an ihre Kapazitätsgrenzen gekommen war, habe der Oberbürgermeister in den sozialen Medien verkündet, es gebe noch freie Plätze in den Parkhäusern.
Christian Drosten hegt Zweifel an der Wissenschaftlichkeit dieser Projekte. Er befürchte, «dass das jetzt nicht Hardcore-Wissenschaftsprojekte sind». Grundsätzlich sei er zwar durchaus dafür, solche Projekte auszuprobieren. Das Ziel, die Leute zu motivieren, sich testen zu lassen, sei ein gutes. Man müsse sich dann allerdings fragen, was man erreichen will. So brauche es Kriterien, ab wann der Versuch als Erfolg angesehen werden kann.
«Ist es die Inzidenz nach 14 Tagen, sind es Krankenhausaufnahmen nach drei Wochen? Sind es Todesfälle nach sechs Wochen? Ist es die Wirtschaftsleistung in einem bestimmten Sektor?» Erst mit einer Vielzahl solcher Erfolgskriterien könne man in der Nachbewertung sehen, wie erfolgreich das Modell war. Des Weiteren mache ein Pilotprojekt nur Sinn, wenn es einen Anschlussplan gebe.
Unsicherheit bei Gastronomen und Kunden
Philipp Lepper, leitender Oberarzt auf der Intensivstation der Uniklinik Homburg im Saarland, warnt ebenfalls vor allzu grosser Leichtigkeit aufgrund der Lockerungen. Die Lage auf den Intensivstationen sei «recht angespannt», erklärt er dem SR. Hinsichtlich der Reserven an Intensivbetten sei «nicht mehr wahnsinnig viel Luft».
Den Start des «Saarland-Modells» beurteilt Lepper als schwierig, da er doch mitten in den Aufschwung der dritten Welle falle. Trotz der neuen Freiheiten sollten die Bürgerinnen und Bürger weiterhin auf eine Reduzierung ihrer Kontakte achten, warnt er.
Neben wissenschaftlichen Bedenken gibt es für die Modellprojekte weitere Hindernisse. Denn auch wenn sie dürfen – nicht jeder Gastronom öffnet gleich seine Türen. So nutze in Saarbrücken nur eine Minderheit die Lockerungen aus, schreibt die «Süddeutsche Zeitung». Es gebe eine grosse Unsicherheit, sowohl bei den Gästen als auch bei den Gastronomen, beschreibt der Betriebsleiter Habib Hamdani im Gespräch mit der Zeitung.
«Hier auf dem Marktplatz, wo es etliche Kneipen gibt, haben nur zwei Läden aufgesperrt», erklärt er. Das liege nicht nur am schlechten Wetter, sondern auch daran, dass die Öffnungen kompliziert seien. «Wir müssen den Gästen viel erklären.»
Die Kritik der Bundeskanzlerin an den Lockerungen könne er sehr gut nachvollziehen. «Selbst ich als Gastronom, der von den Lockerungen wirtschaftlich profitiert, muss sagen, der Zeitpunkt kam sehr unerwartet und auch ein bisschen ungünstig.» Erst habe der Ministerpräsident des Saarlandes noch verkündet, der Lockdown werde über Ostern hinaus verlängert, nun ist man plötzlich Modellregion.
Ähnlich verhalten zeigen sich auch Gastronomen im niedersächsischen Oldenburg, das ebenfalls Lockerungen kombiniert mit Testpflicht erproben will. «Gemeinsam sicher öffnen» sollte es ab dem 12. April heissen, der Termin wurde allerdings inzwischen verschoben. Schuld daran ist nicht nur die Debatte auf Bundesebene, sondern vor allem auch Vorbehalte bei Handel und Gastronomie, berichtet die «Nordwest Zeitung».
Haben die Modelprojekte Zukunft?
Nach Einschätzung des Handelsverbandes Nordwest mache die Öffnung nur bei einem Inzidenzwert von über 100 Sinn. Denn darunter könnten die Geschäfte per Termineinkauf verkaufen. Der Vorteil dabei: Auch auswärtige Kunden können einkaufen. «Ich habe eher das Gefühl, dass die Menschen verunsichert sind», gibt der Geschäftsführer eines Modegeschäfts zusätzlich zu bedenken.
Wie sinnvoll sind also nun diese Modellprojekte? Schwer zu sagen angesichts aktuell noch fehlender Daten. Zwar wird das Projekt in Tübingen vom Uniklinikum begleitet, bisherige Ergebnisse erlauben allerdings noch kein abschliessendes Urteil über den Versuch, berichtet der «Tages-Anzeiger». Vor allem gebe es noch eine Sache, die völlig unklar ist: Wie viele Bürgerinnen und Bürger bei den Tests falsch-negativ sind und dann im Geschäft, Theater oder Museum andere anstecken, wird derzeit nicht erfasst.