Konflikte Russland kritisiert Panikmache in Ukraine-Krise

Von Ulf Mauder und Andreas Stein, dpa

6.12.2021 - 23:30

Ein ukrainischer Soldat sitzt in einem Graben an der Trennlinie zu prorussischen Rebellen. US-Präsident Joe Biden und sein russischer Kollege wollen angesichts der Ukraine-Krise direkt miteinander reden.
Ein ukrainischer Soldat sitzt in einem Graben an der Trennlinie zu prorussischen Rebellen. US-Präsident Joe Biden und sein russischer Kollege wollen angesichts der Ukraine-Krise direkt miteinander reden.
Bild: Andriy Dubchak/ap/dpa

Russland weist Vorwürfe des Westens zurück, einen Angriff auf die Ukraine zu planen. Vielmehr warnt Moskau Kiew vor einer Offensive. Der Konflikt bestimmt auch den Videogipfel von Putin und Biden.

Die Berichte über angebliche Angriffspläne Russlands auf die Ukraine sorgen in Moskau für Entsetzen. Es handele sich um «billige Falschmeldungen», «antirussische Hysterie» und einfach nur «Märchen», schimpft der prominente Aussenpolitiker Leonid Sluzki. Schon lange wird beklagt, dass weder Nato noch die USA für die behauptete Gefahr Beweise vorlegten. An diesem Dienstag wollen Kremlchef Wladimir Putin und US-Präsident Joe Biden per Video direkt miteinander reden.

Putin betonte mehrfach schon, dass sein Land kein Interesse an einer Eskalation habe. In Moskau ist jedem klar, dass Russland bei einem Aufflammen der Kampfhandlungen in der Ostukraine sofort vom Westen verurteilt würde. Die Ukraine hingegen könnte sich der Unterstützung der Nato und des Westens insgesamt sicher sein.

Sluzki meint, dass dann die USA und die Ukraine Russland nicht nur die Schuld am Krieg geben würden. Sie würden auch neue Sanktionen und vor allem das mehrfach angedrohte Betriebsverbot für die umstrittene Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 erwirken.

Am Dienstag treffen sich Biden und Putin bei einem Video-Gipfel.
Am Dienstag treffen sich Biden und Putin bei einem Video-Gipfel.
Bild: Pavel Golovkin/AP/dpa

«Im Fall eines Auflebens des Konflikts werden die Massnahmen der Zügelung und Bestrafung Russlands automatisch in Kraft treten», schreibt der Experte Alexander Baunow. In einer Analyse des Moskauer Carnegie Zentrums sieht er die Ukraine nach Militärhilfen der USA und anderer Nato-Staaten deutlich besser ausgerüstet und militärisch erfahrener als vor 2014, dem Beginn des heutigen Konflikts. Das Land sei auch motivierter, sich die von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiete der Regionen Luhansk und Donzek zurückzuholen.

Auch der Chef der nicht anerkannten Volksrepublik Donezk, Denis Puschilin, sagte in einem am Montag veröffentlichten Video, das ukrainische Militär ziehe an der Front Truppen und Waffen zusammen – ein Verstoss gegen den international ausgehandelten Minsker Friedensplan von 2015. Waffenstillstandsbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sehen jedoch auf beiden Seiten Panzer und Artillerie.

600'000 russische Pässe ausgeteilt

Puschilin macht aber auch klar, dass im Fall einer Offensive ukrainischer Regierungstruppen nur Russland als Schutzmacht helfen könne. Putin geriete dann unter Zugzwang. Er hat nicht nur schon rund 600'000 russische Pässe austeilen lassen, sondern auch sonst die neuen Strukturen festigen lassen. Moskaus Militärdoktrin sieht im Fall eines ukrainischen Angriffs auf die russischen Neubürger ganz klar einen Einmarsch vor.

Das Szenario ist seit langem bekannt. Aber nichts deutet in Russland oder der Ukraine bisher darauf hin, dass es darüber hinaus – wie bisweilen behauptet – Pläne gebe, Kiew oder andere Regionen der Ukraine zu besetzen. Gleichwohl hat die Grossmacht traditionell ein Interesse daran, als wichtiger Gegner wahrgenommen zu werden. Russland setze darauf, dass die Ukraine vor den Drohungen der Atommacht Angst habe und deshalb auf einen Vormarsch im Donbass verzichte, meint auch der Carnegie-Experte Dmitri Trenin.

Viel Militärhilfe aus den USA

Russland sieht seit längerem mit Sorge, dass sich die Ukraine durch die Unterstützung des Westens ermuntert fühlen könnte, gegen die Separatisten vorzugehen. Seit 2014 haben die USA die Ukraine allein für militärische Zwecke mit mehr als 2,2 Milliarden Euro unterstützt.

Zwar lässt Putin nie Zweifel daran, dass ihm kein Preis zur Abwehr eines Angriffs auf die Einheit des russischen Volkes zu hoch wäre. Allerdings schlug der Kreml zuletzt angesichts der Spannungen sogar vor, neben den bisherigen Vermittlern Deutschland und Frankreich auch die USA die Bemühungen um eine friedliche Lösung des Ukraine-Konflikts einzubinden. Auch über diesen Vorschlag dürften Putin und Biden auf dem nach ihrem persönlichen Treffen im Juni in Genf nun zweiten Gipfel sprechen.

Die ukrainische Führung versucht derweil, die Konfrontation für sich zu nutzen. Kiew erwartet zum Ärger Moskaus mehr finanzielle Unterstützung für seine Verteidigungsausgaben. Dabei stellen die etwa von der EU gewährten 31 Millionen Euro für den Verteidigungssektor und 1,4 Millionen Euro für den Grenzausbau Kiew nicht zufrieden.

Bereits seit Jahren sind knapp 500 Militärausbilder aus Nato-Staaten dauerhaft in der Ukraine. Die Zahl der ukrainschen Soldaten wurde von 150'000 im Jahr 2014 auf nunmehr 261'000 erhöht. Britische Militärexperten schätzen, dass die Armee über 800 Panzer, Hunderte Schützenpanzer und über 1800 Haubitzen und Raketenwerfer einsatzbereit hat. Hinzu kommen US-amerikanische Javelin-Panzerabwehrraketen und zwölf türkische Bayraktar-Kampfdrohnen.

Eine Schwäche ist jedoch die Luftabwehr. Zwar verfügt die Ukraine auf dem Papier noch über 125 Flugzeuge, darunter 37 Mig-29 Jets. Doch als einsatzfähig werden nur knapp 30 Kampfflugzeuge angesehen. Zwar könnten Dutzende S-300 und die berüchtigten BUK-Flugabwehrsysteme für die russische Luftwaffe gefährlich werden. Trotzdem wäre die Atommacht Russland für die Ukraine ein unbesiegbarer Gegner.

Von Ulf Mauder und Andreas Stein, dpa