Russisches StrategiepapierKirche ruft «Heiligen Krieg» aus und will ein 600-Millionen-Volk
Philipp Dahm
11.4.2024
Die Russisch-Orthodoxe Kirche hat ein Strategiepapier verabschiedet, das einen «Heiligen Krieg» gegen den Westen ausruft sowie die gesamte Ukraine erobern und ein Volk von 600 Millionen in 100 Jahren sehen will.
Philipp Dahm
11.04.2024, 15:26
Philipp Dahm
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Die Die Russisch-Orthodoxe Kirche hat das Thesenpapier «Die Gegenwart und Zukunft der russischen Welt» verabschiedet.
Sie fordert darin die Einverleibung der gesamten Ukraine in die russische Einflusszone.
Russland muss alle Russischsprachigen zusammenfassen und beschützen. Belarus und die Ukraine werden dabei in die Russki Mir miteinbezogen.
Russen aus dem Ausland sollen heimgeholt werden. Ausländer, die russische Werte teilen, sollen auch kommen dürfen.
In 100 Jahren soll sich das Volk mehr als vervierfachen und auf 600 Millionen anwachsen.
Die Russisch-Orthodoxe Kirche, die auch das Moskauer Patriarchat genannt wird, hat eine intime Beziehung zu Wladimir Putin: Sie ist ein Werkzeug des Kreml und wird nun offenbar benutzt, um neue ideologische Leitplanken zu etablieren.
Ihr Vorsteher Kyrill I., ein enger Vertrauter Putins, hat am 27. und 28. März in Moskau das Weltkonzil des Russischen Volkes abgehalten, das ein Strategiepapier verabschiedet hat, das «Die Gegenwart und Zukunft der russischen Welt» heisst. Es beinhaltet überraschend konkrete Vorschläge für die Exekutive und Legislative des Landes, die es in sich haben.
Zum Krieg in der Ukraine
Der Krieg ist laut dem Papier ein «nationaler Befreiungskampf des russischen Volkes gegen das kriminelle Kiewer Regime und den dahinter stehenden kollektiven Westen, der seit 2014 auf dem Gebiet Südwestrusslands geführt wird». Die Bezeichnung «Südwestrussland» impliziert deutlich das territoriale Anspruchsdenken.
«Aus spiritueller und moralischer Sicht ist eine spezielle Militär-Operation ein Heiliger Krieg», heisst es weiter. Die Gegner sind der Globalismus und der Westen, «der dem Satanismus verfallen ist». Nach diesem Krieg sollte explizit «das gesamte Territorium der modernen Ukraine in die ausschliessliche Einflusszone Russlands fallen».
Zur Russki Mir
Russki Mir – Russische Welt – bezeichnet eigentlich ein ideologisches Konzept einer Führungsrolle, die Belarus und die Ukraine vereinnahmt und Russischsprechende im Ausland miteinschliesst. «Die Grenzen der Russki Mir als spirituelles, kulturelles und zivilisatorisches Phänomen sind deutlich weiter als die Staatsgrenzen», predigt dann auch das Kirchen-Papier.
Moskau müsse diese Welt «vor dem Bösen schützen, sich gegen globale Hegemonie-Bestrebungen stellen und eine «Spaltung und Schwächung des russischen Volkes» verhindern. «Grundlage des Nationallebens» sei die Familie, die Werte vermitteln und weitergeben müsse.
Zur Aussenpolitik
Der Kreml müsse zu «einem der führenden Zentren der multipolaren Welt werden», fordert die Kirche. Russland habe zudem die Aufgabe, «die Sicherheit und stabile Entwicklung im gesamten postsowjetischen Raum [zu] gewährleisten» und die «Wiedervereinigung des russischen Volkes» zu einer Priorität zu machen.
Das Strategiepapier betont die Bedeutung der «Dreieinigkeit des russischen Volkes», was die Inklusion von Belarus und der Ukraine meint. «Der Begriff ‹Russisch› umfasst alle Ostslawen», heisst es.
Russland solle ausserdem ein «Zufluchtsstaat» für Russinnen und Russen werden, die im Ausland unter «Globalismus, Krieg und Diskriminierung» litten – und für jene Ausländer und Ausländerinnen, die loyal und integrationswillig seien sowie «traditionelle Werte verteidigen».
Die «Bild» erinnert das an die völkische Politik der Nazis: «Die Kreml-Kirche will auch ein ‹Heim ins Reich›-Programm auflegen», schreibt die deutsche Zeitung. Kämen noch Ausländer hinzu, die «Russlands ‹Werte›» teilten, würde das Land «zum globalen Hort der Diktatur-Fanatiker und Westen-Hasser».
Zur Bevölkerungspolitik
«Die grösste Bedrohung für die Existenz und Entwicklung Russlands ist die demografische Katastrophe, die unser Land erlebt», weiss die Kirche. Tatsächlich ist die Bevölkerung zwischen 1993 und 2008 von 148 auf 143 Millionen gesunken: Der Schock der Liberalisierung hat die Geburtenrate stark sinken lassen.
Sie liegt derzeit bei 1,42 Kindern pro Frau, obwohl erst ein Wert von 2,1 die Bevölkerungszahl stabil hält. Eine pessimistische Prognose geht davon aus, dass 2036 nur noch gut 134 Millionen Menschen in Russland leben. Derzeit kommt erschwerend hinzu, dass bis zu eine Million Russen das Land nach dem Ausbruch des Krieges verlassen haben sollen.
Umso verblüffender ist das Ziel der Russisch-Orthodoxen Kirche: Sie will die Bevölkerung innert 100 Jahren mehr als vervierfachen. 600 Millionen soll das Land dann zählen. Neben der Stärkung der Grossfamilie sollen die «Steigerung der Geburtenrate und der Kampf gegen Abtreibung in den Mittelpunkt aller staatlichen Politik gestellt werden».
Erreicht werden soll das durch finanzielle Anreize und weitere Massnahmen für ein drittes und viertes Kind: Arbeitgeber könnten angehalten werden, Personen mit vielen Kindern einzustellen. «Keuschheit und Tugend müssen in die russische Gesellschaft zurückkehren», heisst es weiter. «Sexuelle Unmoral sowie Sodomie» müssten bekämpft werden.
Reaktionen
Die Russisch-Orthodoxe Kirche «scheint zuvor parallele Narrative des Kreml zu einer relativ kohärenten Ideologie zu kombinieren, die sich auf nationale Identität und eine demografische Wiederauferstehung fokussieren», die Russland eine Periode der nationalen Verjüngung im Tausch gegen soziale und bürgerliche Pflichten versprechen, analysiert das Institute for the Study of War.
Es sei «sehr wahrscheinlich», dass sich der Kreml bei diesem Papier bedienen werde, auch wenn Putin womöglich nicht alle Standpunkte übernehme.
Dem Atlantic Council fallen Parallelen zu radikalen Islamisten auf, die den Westen ebenfalls als «satanisch» ablehnten. Die Denkfabrik aus Washington erinnert daran, dass Kyrill russischen Soldaten versprach, ihre Sünden würden «weggewaschen» wenn sie in der Ukraine fallen sollten.
«Während Putin anfangs versuchte, die Invasion als pragmatische Antwort auf das Wachstum der Nato zu rechtfertigen», heisst es weiter, «ist es nun offensichtlich, dass er den Krieg als heilige Mission betrachtet und nicht aufhören wird, bis die Ukraine von der europäischen Landkarte getilgt ist.»