Kommt wirklich alles gut? Spätestens zum Stichtag am 31. Oktober will Premierminister Boris Johnson Grossbritannien aus der EU führen. Doch was er genau plant, ist unklar.
Nach gegenseitigen Schuldzuweisungen mit Brüssel – im Bild EU-Ratspräsident Donald Tusk – sah es zuletzt nicht so aus, als würde noch ein Abkommen gefunden. Also ein No-Deal-Brexit? Es gibt da ein Problem ...
Denn ein vom britischen Parlament verabschiedetes Gesetz verpflichtet Johnson eigentlich dazu, Brüssel um eine Fristverlängerung zu bitten, sollte bis zum 19. Oktober keine Einigung gefunden sein.
Fühlt er sich an dieses Gesetz gebunden? Dazu sendet Boris Johnson widersprüchliche Signale aus. Mehrfach erklärte er aber, Grossbritannien solle am 31. Oktober auf jeden Fall aus der EU austreten – notfalls auch ohne Deal.
Wie will er dann verhindern, dass zwischen dem EU-Mitglied Irland und der britischen Provinz Nordirland eine «harte Grenze» entsteht? Johnsons Vorschläge seien nicht praktikabel, sagt der Grossbritannien-Korrespondent Ralf Sotscheck.
Immerhin eines wäre Johnson gewiss: Wenn er den EU-Austritt durchzieht, kann er der Brexit-Partei von Nigel Farage den Wind aus den Segeln nehmen. Das würde Johnson bei bald erwarteten Neuwahlen zupasskommen.
Was auch immer passiert bis Ende Monat: Für Spannung im Brexit-Drama ist weiterhin gesorgt.
Brexit: Spannung bis zum Schluss
Kommt wirklich alles gut? Spätestens zum Stichtag am 31. Oktober will Premierminister Boris Johnson Grossbritannien aus der EU führen. Doch was er genau plant, ist unklar.
Nach gegenseitigen Schuldzuweisungen mit Brüssel – im Bild EU-Ratspräsident Donald Tusk – sah es zuletzt nicht so aus, als würde noch ein Abkommen gefunden. Also ein No-Deal-Brexit? Es gibt da ein Problem ...
Denn ein vom britischen Parlament verabschiedetes Gesetz verpflichtet Johnson eigentlich dazu, Brüssel um eine Fristverlängerung zu bitten, sollte bis zum 19. Oktober keine Einigung gefunden sein.
Fühlt er sich an dieses Gesetz gebunden? Dazu sendet Boris Johnson widersprüchliche Signale aus. Mehrfach erklärte er aber, Grossbritannien solle am 31. Oktober auf jeden Fall aus der EU austreten – notfalls auch ohne Deal.
Wie will er dann verhindern, dass zwischen dem EU-Mitglied Irland und der britischen Provinz Nordirland eine «harte Grenze» entsteht? Johnsons Vorschläge seien nicht praktikabel, sagt der Grossbritannien-Korrespondent Ralf Sotscheck.
Immerhin eines wäre Johnson gewiss: Wenn er den EU-Austritt durchzieht, kann er der Brexit-Partei von Nigel Farage den Wind aus den Segeln nehmen. Das würde Johnson bei bald erwarteten Neuwahlen zupasskommen.
Was auch immer passiert bis Ende Monat: Für Spannung im Brexit-Drama ist weiterhin gesorgt.
Im Brexit-Drama naht der Tag der Entscheidung – und alles ist offen. Grossbritannien-Kenner Ralf Sotscheck über das Kalkül von Premier Boris Johnson, die Angst der Iren und Märchen über italienische Gemächter.
Über drei Jahre ist es bereits her, dass sich das britische Stimmvolk knapp für einen EU-Austritt ausgesprochen hat – und nach Tausenden Stunden Verhandlungen, Debatten und Streit auf beiden Seiten des Ärmelkanals sollte eigentlich langsam Klarheit herrschen. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Was ein ungeregelter Brexit für Grossbritannien und Irland bedeuten würde und wie Premierminister Boris Johnson ein Gesetz umgehen will, das ihn zu Nachverhandlungen mit Brüssel zwingt, das ist selbst Kennern des britischen Politsystems schleierhaft. «Bluewin» bat den in Dublin wohnhaften Autor und Journalisten Ralf Sotscheck um Einschätzungen.
Herr Sotscheck, es sind nur noch wenige Wochen bis zum Brexit-Stichdatum, dem 31. Oktober, – und trotzdem scheint noch alles unklar zu sein. Auf welchen Ausgang würden Sie denn Ihr Geld wetten?
Das ist schwierig zu sagen. Ich glaube, ich würde im Moment lieber gar nicht wetten. Der Vorschlag von Boris Johnson, der als Kompromiss gehandelt wird, ist in Wirklichkeit ja keiner, denn die EU kann ihn so nicht annehmen.
Weshalb nicht?
Johnson schlägt ja vor, dass Nordirland zwar im EU-Binnenmarkt bleibt, aber die Zollunion verlassen wird – gemeinsam mit dem Rest des Vereinigten Königreichs. Aber wie soll man Zölle erheben, wenn es keine Grenze zwischen Irland und Nordirland gibt? Er sagt zwar, man könne das durch die Anmeldung von Waren oder technologisch lösen. Würde das funktionieren, dann hätte man es längst auf den Tisch gebracht und sich den ganzen Zwist um den Backstop erspart. Die Technologie, um eine virtuelle Grenze ohne physische Grenzkontrollen oder Kameras zu sichern, gibt es bisher aber nicht.
Und dann ist da noch ein zweiter Punkt: Dass die nordirische Regionalregierung, die zwar seit fast drei Jahren auf Eis liegt, ein Vetorecht erhalten soll. Ein Abkommen müsste alle vier Jahre bestätigt werden. Das heisst, die unionistische DUP-Partei könnte Ende nächsten Jahres sagen: «Nein, das wollen wir nicht», und damit wäre die ganze Sache schon wieder hinfällig. Und das weiss Johnson natürlich auch.
Was bezweckt er dann mit seinem Vorschlag?
Ich denke, ihm geht es auch darum, Schuldzuweisungen aufzubauen, um sich für die anstehenden Wahlen aufzustellen. Denn Wahlen wird es bald geben, noch in diesem Jahr. Dann könnte er sagen: «Ich habe alles versucht, aber die EU war stur.» Darum glaube ich auch nicht daran, dass vor dem 31. Oktober noch ein Abkommen unterzeichnet wird.
Trotzdem beteuert Johnson öffentlich, dass er einen geregelten Brexit will. Sie schenken diesen Worten also keinerlei Glauben?
Na, das muss er ja sagen. Sein Ziel ist aber, so glaube ich, der Brexit ohne Deal am 31. Oktober. Wie er das hinbekommen will, ist mir bisher aber noch ein Rätsel – genauso wie vielen Kommentatoren. Denn er sagt ja widersprüchliche Dinge: Einerseits hat ein Gericht bestimmt, dass er eine Verlängerung der Verhandlungen mit der EU beantragen muss, wenn es bis zum 19. Oktober keine Einigung gibt – ansonsten macht er sich strafbar. Und er hat auch zugesagt, dass er sich daran halten wird.
Aber andererseits sagt er immer noch: «Am 31. Oktober ist Schluss.» Das würde bedeuten, er hat noch ein Ass im Ärmel oder einen Plan B, den bisher noch keiner kennt. Deshalb würde ich auch nicht wetten.
Immerhin in einem Punkt scheint zwischen Brüssel und London Einigkeit zu herrschen: Dass es zwischen Irland und Nordirland keine Grenze geben soll.
Ja, aber es weiss niemand, wie man das verhindern will. Der Vorschlag, den Johnson vorgelegt hat, ist nicht praktikabel. Und es wäre eine Katastrophe, sollte die Grenze geschlossen werden. Alleine auf der Hauptstrasse zwischen Dublin und Belfast überqueren fünf LKW die Grenze – pro Minute! Zwar glaube ich nicht, dass der bewaffnete Konflikt wieder aufleben wird, aber die Grenzkontrollstellen könnten zu Angriffspunkten werden.
Wären Grenzkontrollen denn überhaupt umsetzbar?
Auch wenn man es wollte, ist die Grenze nicht vollständig zu kontrollieren. Selbst während des Nordirlandkonflikts, als man ein grosses Interesse daran hatte, dass die Leute nicht von Nord nach Süd und umgekehrt fliehen konnten, hat man das nicht geschafft. Es gibt auf dieser 500 Kilometer langen Grenze mehr als 250 Grenzübergänge. Manche Strassen wechseln auf zehn Kilometern fünfmal die Seite, es gibt geteilte Orte – das geht gar nicht.
Prognosen sehen ein wirtschaftliches Debakel auf Grossbritannien zukommen im Falle eines ungeregelten Brexit. Wer hätte denn ein Interesse an solch einem Szenario?
Das ist die grosse Frage. Jeden Tag werden Experten hervorgekramt, die dann ihre Theorien zum Brexit zum Besten geben. Dann sagt einer, ein ungeregelter Brexit wäre eine grosse Katastrophe für Grossbritannien, für Irland, für Nordirland sowieso. Und am nächsten Tag kommt ein anderer Experte und sagt, das könnte auch eine Chance sein. Niemand weiss wirklich, was passieren wird, wie gross der Schaden oder der Nutzen sein wird. Es wird aber sehr viel mit Zahlen und mit Lügen operiert.
Mit welchen Lügen denn?
Die wohl bekannteste ist, dass die EU Kondomgrössen vorschreiben will, die sich an den Italienern orientiert, die viel zu klein für englische Männer seien. Es gibt Hunderte solcher Geschichten, die zwar nicht wahr sind, aber trotzdem die Meinung beeinflussen und so überhaupt eine Mehrheit für den Brexit zustande kam.
Wie ist denn die Stimmung in Irland? Das Land ist EU-Mitglied, aber als Nachbar trotzdem mitgefangen im Brexit-Drama.
In Irland geht die Angst um. Grossbritannien ist nun einmal der wichtigste Handelspartner, und ein Brexit könnte da grössere Probleme mit sich bringen. Im neuen Haushaltsplan sind zwar Rückstellungen vorgesehen, um die schlimmsten Folgen des Brexit abzumildern, aber es weiss ja niemand genau, was passieren wird. Gerade in den Grenzstädten ist es sehr problematisch.
Pettigo ist so ein Beispiel: Die Hälfte des Ortes liegt in Nordirland, die andere Hälfte in der Republik. Seit dem Friedensprozess ist die Stadt aufgeblüht, man kann sich wieder frei bewegen, es gibt keine Grenze mehr. Es gibt viele solcher Orte – und die Leute dort haben Angst, weil sie noch wissen, wie es während des bewaffneten Konflikts war. Doch es weiss ja niemand, was kommt. Ausser vielleicht Boris Johnson und seinen Beratern.
Einige Kommentatoren glauben, Johnson sei der Brexit eigentlich egal: Er habe nur auf eine Chance gewartet, sich zum Premierminister aufzuschwingen. Wie sehen Sie das?
Dafür gibt es tatsächlich viele Indizien. Weil die ganze Zeit vor dem Referendum war er noch gegen den Brexit – und hat sich erst einige Wochen davor umentschieden und wurde zum Hauptsprecher der Brexit-Befürworter. Viele sagen, und ich persönlich glaube das auch, dass dahinter Kalkül steckte.
Nämlich?
Wäre Johnson gegen den Brexit gewesen, und das Volk hätte Ja gestimmt, dann wäre er politisch erst einmal weg vom Fenster gewesen. Wäre er aber für den Brexit gewesen, und das Volk hätte dagegen gestimmt, dann wäre er immerhin der Sprecher einer sehr grossen Fraktion von Brexit-Befürwortern gewesen und hätte dadurch immer noch eine Machtbasis gehabt. Von daher sollte sein Einsatz für den Brexit ihn an die Macht tragen – was ja am Ende auch geklappt hat.
Und dennoch: Kommt es zum ungeregelten Brexit, dürfte er vor einem ziemlich grossen Scherbenhaufen stehen. Oder wäre das für ihn einfach nur eine andere Art von Scherbenhaufen als jener, den er jetzt schon hat?
Ja, das wäre tatsächlich der Fall. Aber zumindest hätte er dann die Brexit-Partei von Nigel Farage vom Hals. Der EU-Austritt ist deren einziger Programmpunkt, und wenn er den Brexit ohne Deal durchzieht, gäbe es auch keinen Grund mehr, sie zu wählen. Das ist wohl Johnsons Kalkül, dass er mit dem Brexit seine Machtposition festigen kann und wiedergewählt wird. Eventuell sogar mit absoluter Mehrheit.
Was danach kommt? Dazu ist noch wenig gesagt worden. Es ist nur viel geträumt worden, von einem blühenden Grossbritannien, das mit der ganzen Welt Handel treibt – aber so einfach wird’s nicht werden.
Zur Person: Ralf Sotscheck ist Buchautor («Gebrauchsanweisung für Irland») und langjähriger Grossbritannien- und Irland-Korrespondent der deutschen «Tageszeitung» (taz). Er lebt in Dublin.
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