USA-Experte «Joe Biden wollte keine Empathie zeigen»

Von Julian Weinberger

18.8.2021

US-Präsident Joe Biden trat am Montag vor die Medien, um über die aktuelle Situation in Afghanistan zu sprechen.
US-Präsident Joe Biden trat am Montag vor die Medien, um über die aktuelle Situation in Afghanistan zu sprechen.
Bild: Keystone/EPA/Oliver Contreras / POOL

Nach der blitzartigen Machtübernahme der Taliban in Afghanistan hat sich am Montag Joe Biden zu Wort gemeldet. Der Politologe und USA-Experte Thomas Jäger erläutert, warum der US-Präsident dabei eine harte Linie fuhr und was zur Gretchenfrage seiner Amtszeit werden könnte.

Von Julian Weinberger

Die internationalen Truppen sind weg, die Taliban haben die Macht übernommen und ein ganzes Land versinkt im Chaos: Die Lage in Afghanistan ist spätestens seit der Übernahme der Hauptstadt Kabul durch die radikal-islamische Gruppierung ausser Kontrolle. Zehntausende Menschen versuchen panisch zu flüchten, während sich Präsident Aschraf Ghani ins Exil abgesetzt hat.

Nicht mehr im Land sind auch Tausende von US-Soldaten. Präsident Joe Biden hatte am 1. Mai den offiziellen Abzug der Truppen befohlen, den schon Vorgänger Donald Trump ausweichlich in die Wege geleitet hatte. Am Montag trat Biden vor die Medien, um sich zu der aussenpolitischen Niederlage zu erklären.

Zur Person
Prof. Dr. Thomas Jäger von der Universität Köln, USA-Experte
zVg

Thomas Jäger hat den Lehrstuhl für internationale Politik und Aussenpolitik an der Universität Köln inne. Zu seinen Schwerpunkten gehört unter anderem amerikanische Aussenpolitik.

Weshalb sich der 78-Jährige bei der Rede von seiner harten Seite zeigte, wer die Schuld an der gegenwärtigen Situation in Afghanistan trägt und wie es um Bidens Ruf in den USA steht, erklärt der Politologe Thomas Jäger von der Universität Köln im Gespräch mit «blue News».

Herr Jäger, wie bewerten Sie die Rede von Joe Biden?

Er hatte keine andere Wahl, als so aufzutreten, wie er aufgetreten ist – ziemlich hart, fast schon aggressiv, indem er seine Entscheidung als Präsident verteidigt hat. Biden sagte: «Die Verantwortung liegt bei mir», und er machte deutlich, dass die Entscheidung unumstösslich sei. Das ist das Signal, das er geben muss. Wenn schon die Situation aus dem Ruder gerät, dann bleibt die Entscheidungslage stark. Die Argumente, die er hat, sind ja erst mal nicht schlecht.

Welche sind das?

Erstens wies er darauf hin, dass er in diese Situation gebracht wurde durch drei Schuldige: Erstens Trump, der ihm das Datum 1. Mai hinterlassen hat. Zweitens Ghani, der sich vom Acker gemacht hat. Und drittens die afghanischen Streitkräfte, die sich aufgelöst haben. Dann schliesst Biden die Mutmassung an, dass sich die Gesamtsituation wohl auch in fünf oder zehn Jahren nicht ändert. Und warum sollen die amerikanischen Soldaten kämpfen, wenn die afghanischen es nicht tun?

Joe Biden fiel bislang bei seinen öffentlichen Auftritten oft durch Empathie auf. Diese hat er bei seiner jüngsten Rede vermissen lassen. Verspielt Biden damit Glaubwürdigkeit?

Nein, das ist Kalkül. Jede Geste, jede Betonung war geübt, das Absenken der Stimme. Biden wollte keine Empathie zeigen. Der Präsident wollte in einer Situation, in der ihn alle als schwach wahrnehmen, stark erscheinen – als derjenige, mit dem nicht zu diskutieren ist und der bestimmt, was läuft. Das war genau so angelegt und – ganz anders als in seinen Wahlkampfreden – so gewollt. Es hatte den Zweck, Stärke zu demonstrieren.

Hat er dieses Ziel erreicht?

Das kann man noch nicht sagen. Richtig ist, dass momentan die Kritik an seinem Vorgehen gross ist. Aber eines ist interessant: Donald Trump hat gefordert, dass Biden zurücktreten solle wegen dem, was er in Afghanistan angerichtet hat. Dabei ist den Amerikanern viel wichtiger, was Biden in den USA tut.

Das Urteil darüber, ob es einmal heissen wird, dass Joe Biden in einem Fiasko aus Afghanistan raus ist oder dass er einen jahrzehntelangen Fehler mutig korrigiert hat, ist noch nicht gefällt. Aktuell ist das eine viel zu volatile Situation, um jetzt schon sagen zu können, wie sich die öffentliche Meinung am Ende bildet.

Nach dem Abzug der internationalen Truppen haben in Afghanistan die Taliban das Kommando übernommen.
Nach dem Abzug der internationalen Truppen haben in Afghanistan die Taliban das Kommando übernommen.
Bild: XinHua/dpa

Nicht eingegangen ist Joe Biden in seiner Rede auf die Soldaten, die in den letzten 20 Jahren für die USA kämpften. Welche Bedeutung hat diese Missachtung in einem solch patriotischen Land wie den USA?

Diesen Punkt hätte er aufnehmen können, hätte aber von dem abgelenkt, was er vermitteln wollte. Biden ging es nicht darum, die Rede zum Abschluss des Einsatzes zu halten, das wird noch kommen. Er wollte klarmachen: Der Präsident spricht zu seinem Volk. Diese Ebene hat er nicht einmal verlassen. Es hat nicht der Präsident empathisch gesprochen, sondern der Oberbefehlshaber hat seine Befehle erläutert.

Von den Republikanern musste Biden harte Kritik einstecken, auch Demokraten zeigten teils Unverständnis. Dazu schwindet der Rückhalt der US-Bevölkerung in den Truppenabzug. Wie steht es um Bidens Ruf?

Dass es sich die Republikaner einfach machen und dem «schwachen Präsidenten» eine Situation anheften möchten, die er einfach nicht mehr in der Hand hatte, ist nicht verwunderlich. Es war von Anfang an völlig klar, dass mit dem Ausdünnen der fremden Truppen die Wiederkehr der Taliban verbunden ist. Deswegen werden in Doha seit 2018 Gespräche geführt, weil den USA und auch der Regierung Trump klar ist und war, dass die Taliban wieder das Land übernehmen, sobald die Amerikaner es verlassen.

Vor dem Abzug der Truppen warnten viele Experten vor diesem Schritt. Stehlen sich die USA und andere Grossmächte aus der Verantwortung?

Man muss zwei Dinge unterscheiden: Das Abzugsdatum am 1. Mai stand fest, was auch genau Bidens Argument ist. Wenn er darauf gewartet hätte, dass die Verhandlungen zwischen Ghani und den Taliban in Doha zu einem Abschluss gekommen wären, wäre der Abzug der US-Truppen nie erfolgt. Weder die Regierung Ghani noch die Taliban hatten Interesse an den Friedensgesprächen.

Für Biden liess das nur die Wahl, darauf zu verzichten, diese Bedingungen als erfüllt zu sehen oder aber abzuziehen. Die Verantwortung für das Land trägt nicht die amerikanische Regierung. Der entscheidende Satz von Bidens Rede war: «Der Einsatz in Afghanistan liegt nicht in unserem nationalen Sicherheitsinteresse.»

Wie gross ist Bidens Anteil an der aussenpolitischen Niederlage in Afghanistan?

Dieser Frage ist er in der Rede aus dem Weg gegangen. Er hat stattdessen in zwei Richtungen abgelenkt. Einerseits sagt er, er ist der vierte Präsident, der damit befasst ist, und es wird keinen fünften geben. Das heisst, die Afghanistan-Politik ist nicht Biden-Politik, sondern liegt in der Verantwortung von Bush, Obama, Trump und Biden.

US-Präsident Joe Biden salutiert vor einem US-Soldaten kurz vor seiner Rede am Montag.
US-Präsident Joe Biden salutiert vor einem US-Soldaten kurz vor seiner Rede am Montag.
Bild: Keystone/AP Photo/Manuel Balce Ceneta

Und die zweite Ablenkung?

Andererseits sagte Biden, es ändere nichts, wenn der Truppenabzug in fünf oder zehn Jahren passiere. Damit hat Biden den Finger in die Wunde gelegt. Jeder wusste spätestens im Jahr 2002, dass der Konflikt in Afghanistan militärisch nicht gewonnen wird. Seitdem wurde versucht, politisch und kulturell das Land auf einen anderen Pfad zu bringen – insbesondere von den Europäern.

Doch es war eine Illusion, dass 20 Jahre Bildung und eine andere politische Kultur die Gesellschaft in Afghanistan verändern. Dieser Illusion sind die Amerikaner weit weniger aufgesessen. Für sie ging es darum, dass von diesem Gebiet keine Terrorgefahr mehr ausgeht.

Haben die USA dieses Ziel erreicht?

Das grösste Risiko, das Biden eingegangen ist, ist, dass es während seiner Amtszeit einen Terroranschlag gibt, der in irgendeiner Art und Weise mit diesem Abzug in Verbindung gebracht werden kann. Das wird das definierende Moment seiner Präsidentschaft sein.

Wie wird sich die Situation in Afghanistan entwickeln?

Wir können nicht absehen, wie gross die Flucht aus dem Land sein wird. Ebenso wenig können wir prognostizieren, in welchem Masse der politische Islamismus erstarkt. All das werden erst die nächsten Wochen und Monate zeigen. Aber eines ist klar: Die Taliban haben nun jahrelang Erfahrung damit, in Luxushotels in Doha zu verhandeln. Deshalb wollen sie zunächst einmal anders wahrgenommen werden, weil sie vom Rest der Welt nur eines brauchen: Geld.