Fragen und AntwortenStürzt der Irak in einen Bürgerkrieg?
Von Philipp Dahm
30.8.2022
Heftige Ausschreitungen an der Grünen Zone in Bagdad
Die politischen Unruhen im Irak dauerten am Dienstag an. Nach Angaben des irakischen Militärs feuerten Militante Raketen auf die befestigte Grüne Zone Bagdads, dem Sitz von Parlament und Regierung. Auch aus anderen Landesteilen wurden Proteste gemeldet.
30.08.2022
Bei schweren Zusammenstössen in Bagdad sind mindestens 23 Menschen getötet und 450 verletzt worden. Die Lage hat sich vorerst beruhigt, doch die Probleme bleiben. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Von Philipp Dahm
30.08.2022, 18:14
Philipp Dahm
Am Montagabend steht der Irak am Rande eines Bürgerkrieges, titelt «Arab News» – und die UNO-Mission im Land (Unami) findet ebenfalls deutliche Worte. «Das nackte Überleben des Staates steht auf dem Spiel», lautet die nachdrückliche Warnung. Was ist da los im Zweistromland?
Was ist der Auslöser für die neue Krise?
Am Montag, den 29. August, gibt ein einflussreicher Schiitenführer bekannt, der nationalen Politik den Rücken kehren zu wollen. «Ich erkläre meinen endgültigen Rückzug», schreibt Muktada al-Sadr auf Twitter. Keine zwei Stunden später versammeln sich vor dem Regierungspalast in Bagdad, in dem auch das Büro von Premierminister Mustafa al-Kadhimi liegt, seine Anhänger.
Sicherheitskräfte versuchen, die Demonstranten mit Wasserwerfern und Tränengas zu vertreiben. Schliesslich eröffnet die Miliz einer rivalisierenden schiitischen Gruppe das Feuer. Mindestens 23 Menschen sterben, rund 450 werden verletzt. Auch in anderen Städten wie Nasiriya und Hilla kommt es zu Ausschreitungen – und Al-Sadr-Anhänger sperren ausserdem den Zugang nach Umm Qasr, dem einzigen Tiefsee-Hafen des Landes.
Wie ist die aktuelle Lage?
Es ist wiederum Muktada al-Sadr, der die Situation vorerst beruhigt. Der 48-Jährige hält im Fernsehen eine Ansprache, in der er seine Anhänger sowie loyale Milizen auffordert, sich innert einer Stunde aus dem Regierungsgebäude zurückzuziehen. Er werde sich andernfalls von seinen Leuten abwenden, so Al-Sadr.
His Eminence Muqtada Al-Sadr’s call to stop violence is the epitome of patriotism and respect to the sanctity of Iraqi blood. His speech emplaces national and moral duty upon all to protect Iraq and stop political escalation and violence and, to immediately engage in dialogue.
— Mustafa Al-Kadhimi مصطفى الكاظمي (@MAKadhimi) August 30, 2022
Die Lage in Bagdad hat sich seither beruhigt. Unami dankt dem Schiitenführer für seine «moderate Erklärung» und rief zu Zurückhaltung und Ruhe auf, «damit die Vernunft obsiegt». Premier Al-Khadhimi zeigt sich auf Twitter erleichtert: Al-Sadrs Eingreifen sei der «Inbegriff des Patriotismus», das der «Heiligkeit des irakischen Blutes» gerecht werde. Die «politische Eskalation» müsse aufhören.
Warum der politische Stillstand?
Al-Sadrs Rückzugsankündigung sollte dessen Forderung nach Neuwahlen Nachdruck verleihen, denn das Land steckt seit den Wahlen im Oktober in einer Sackgasse. Al-Sadrs Bewegung wird damals stärkste Partei und holt 60 von 329 Parlamentssitzen. Al-Sadr ist jedoch nicht der einzige Schiitenführer.
Es gibt da eine Gruppe um den früheren Regierungschef Nuri al-Maliki, die dem Iran nahesteht. Mit ihr will Al-Sadr aber keine Regierung bilden. Er hat auch keine Zweidrittelmehrheit, um den Präsidenten benennen zu können, der nötig ist, um eine Regierung zu bestätigen. Premier Al-Khadhimi ist deshalb seit Oktober nur provisorisch im Amt.
Al-Sadr hat deshalb seine Leute aus dem Parlament abgezogen und seine Anhänger per Sit-in vor dem Regierungsgebäude protestieren lassen. Als am 28. August ein früherer Verbündeter namens Ajatollah Kadhim al-Haer dazu aufruft, dem Iraner Ajatollah Ali Chamenei zu folgen, entschliesst sich Al-Sadr frustriert zum Rückzug.
Wie geht es weiter?
Eine politische Lösung ist derzeit nicht in Sicht. Al-Sadr hat bereits den Justizrat und das Bundesverfassungsgericht unter Druck gesetzt, damit die das Parlament auflösen. Das könnten aber die Abgeordneten selbst beschliessen, wehrten die Behörden die Forderung vor einer Woche ab.
Wie der innerschiitische Machtkampf weitergeht, ist offen. Al-Sadr ist eine Leitfigur, an der Teheran nicht vorbeikommt: Er kann im Irak auf etwa sieben Millionen treue Anhänger zählen. Der Geistliche hat 2014 schon einmal seinen Rückzug aus der Politik bekanntgegeben: Es ist möglich, dass er auch diesmal wieder zurückkommt.
Eine am Vortag ausgerufene abendliche Ausgangssperre ist wieder aufgehoben worden, nachdem sich die Lage in Bagdad beruhigt hat. Der Iran hat die Grenzen zum Nachbarland geschlossen. Länder wie Kuwait und Jordanien haben ihre Bürger*innen aufgerufen, den Irak zu verlassen.