Schülerinnen im Iran protestieren«Ich will nicht so enden wie meine Mutter»
Andrea Moser
10.10.2022
Proteste im Iran: Schülerinnen gehen auf die Strasse
Schülerinnen gehen im Iran für ihre Rechte auf die Strasse. Dabei begeben sie sich in Gefahr: Sie müssen mit Verhaftungen rechnen.
10.10.2022
Seit dem Tod einer jungen Frau wehren sich Iranerinnen gegen ihre Unterdrückung. Sie wollen radikale Änderungen. Auch Schülerinnen protestieren – und begeben sich dabei wie alle Frauen im Land in Lebensgefahr.
Andrea Moser
10.10.2022, 17:21
10.10.2022, 17:58
Andrea Moser
«Islamische Republik, wir wollen dich nicht!» Diese Worte hallen durch die Dörfer und Städte im Iran. Studentinnen, Mütter, Intellektuelle und Schülerinnen, sie alle gehen auf die Strasse, reissen sich das Kopftuch vom Haupt und protestieren. Furchtlos. Denn jeder Protest kann mit dem Leben bezahlt werden.
Dass die Iranische Führung Demonstrant*innen brutal zurückschlägt, zeigen diverse Aufnahmen aus den vergangenen Wochen. Mehr als 130 Menschen sind nach Angaben von Amnesty International bereits getötet worden. Experten gehen davon aus, dass die Dunkelziffer weit höher ist.
Auslöser war im September der Tod der iranischen Kurdin Mahsa Amini (22) in Polizeigewahrsam, die ihr Kopftuch nicht richtig getragen haben soll. Richteten sich die Proteste zunächst gegen die rigorosen Kleiderregeln – die die iranische Führung den Frauen seit der Islamischen Revolution 1979 aufgezwungen hat – stellen die Demonstrierenden inzwischen die Systemfrage.
Diese lässt auch minderjährige Iranerinnen nicht kalt. Protestrufe sind auch auf Schulhöfen zu hören. «Kopftuch ist doof, Schule ist auch doof, denn der Mist, der in unseren Büchern steht, wird uns in Zukunft nichts nützen», sagt die 16-jährige Tanas. Sie wolle nicht so enden wie ihre Mutter, die zu Hause nur koche und putze. «Ich will aus meinem Leben etwas machen, aber mit Islam und den Mullahs geht das nicht.» So begründet sie ihre Teilnahme an den Demonstrationen.
Der Staat scheint nicht zu unterscheiden, ob Studentinnen, Hausfrauen oder eben Schülerinnen demonstrieren. Er greift rigoros durch. Laut Medienberichten sollen gar Schüler*innen auf dem Schulhof festgenommen worden sein. Das berichtet unter anderem der «Guardian». Sicherheitskräfte seien mit Lieferwagen auf Schulhöfe gefahren. Videos, das über den Kurznachrichtendienst Twitter verbreitet und unter anderem von der BBC geteilt wurden, zeigen die Lieferwagen.
یکی از دانشآموزان هنرستان آفرینش شهرستان پردیس به بیبیسی فارسی گفت که دیروز ۱۶ مهر در نتیجه «همکاری مسئولان مدرسه و نیروهای امنیتی» گروهی از لباس شخصیها با یک ون بدون پلاک وارد مدرسه شده و تلاش کردند گروهی از دانشآموزان را به خاطر شعار دادن و تجمع دستگیر کنند. pic.twitter.com/mEAgtgyCyD
Andere Videos zeigen, wie Sicherheitskräfte mit Tränengas, Knüppeln und sogar mit Schusswaffen auf protestierende Jugendliche und Frauen losgehen. Das bestätigen auch mehrere Aktivistinnen gegenüber der Nachrichtenagentur AP. Sie alle erzählten von Unterdrückungstaktiken wie Schlägen, Festnahmen und dem Einsatz von scharfer Munition gegen Demonstranten. Die Behörden weisen derartige Darstellungen zurück. Videos in den sozialen Medien zeigen jedoch ein anderes Bild. Ein Video, das die BBC Persian auf Twitter veröffentlichte, zeigt, wie ein uniformierter Mann direkt auf die Person schiesst, die filmt. Jedoch ohne Erfolg.
این ویدیو مربوط به اعتراضهای ۱۶ مهر در تهران است که نشان میدهد نیروهای امنیتی بعد از حمله به یک ساختمان با دیدن فیلمبردار به سمت او به طور مستقیم شلیک میکند. تشخیص نوع سلاح این مامور برای بیبیسی فارسی امکانپذیر نیست. pic.twitter.com/3KLwnSZSFo
Am vergangenen Wochenende haben sich die Spannungen ein weiteres Mal verschärft. Einer der Brennpunkte ist die Hauptstadt der Provinz Kurdistan, Sanandadsch. Menschenrechtsbeobachtern zufolge sind zwei Demonstranten erschossen worden. Einwohner berichteten von einer massiven Präsenz von Sicherheitskräften in der Stadt. Trotzdem protestieren die Menschen weiter.
Die kurdischen Gebiete im #Iran sind seit heute Nacht unter heftigen Beschuss. Kriegsähnliche Zustände. Allen voran die Stadt #Sanandaj. Menschenrechtsorganisation vor Ort warnen vor Massaker.Tote und Schiesserei.Zur Zeit habe ich keinen Kontakt zu allen Quellen. #IranRevolutionpic.twitter.com/Kq7EF4yYih
Die Nachricht vom Tod der 22-jährigen Kurdin Mahsa Amini, die in Teheran wegen Verstosses gegen Kopftuchregeln festgenommen worden war, hatte sich in Kurdistan wie ein Lauffeuer ausgebreitet. Als Amini am 17. September in der Stadt Sagheg bestattet wurde, füllten Demonstranten bereits die Hauptverkehrsstrasse in Sanandadsch, wie Aktivistinnen berichten. Leute verschiedener Altersgruppen waren da und skandierten Slogans, die dann in anderen iranischen Städten aufgegriffen wurden, unter anderem «Frauen. Leben. Freiheit.».
Als die 32-jährige Hausfrau Rosan* vom Tod der jungen Frau hörte und dem Grund für die Festnahme, hat sie sich den Demonstranten sofort angeschlossen. «Das Gleiche ist mir widerfahren», schildert sie. 2013 sei sie wie Amini mit einer Freundin in Teheran unterwegs gewesen, als die Sittenpolizei sie angehalten habe. Das Überkleid, das sie getragen habe, sei der Sittenpolizei zu kurz gewesen. Sie wurde in dieselbe Einrichtung gebracht wie Amini und gezwungen, ein Schuldbekenntnis zu unterschreiben.
Auch die 35-jährige Iranerin Scharo ruft auf der Strasse Slogans wie «Tod dem Diktator!». Dass sie sich selbst an einer Rebellion beteiligt, hätte sie bis vor Kurzem nicht gedacht. Schliesslich ist sie in einem repressiven System gross geworden, in dem man so etwas nicht darf. Jetzt ist sie in erster Linie wütend. Und das zeigt sie auch.
Nebst der Wut ist auch die Angst ein enger Gefährte. Wie Protestierende schildern, würden sich Verletzte oft sträuben, Ambulanzen zu benutzen oder Spitäler aufzusuchen. Sie befürchten, dass sie dabei festgenommen werden. Aktivisten argwöhnen auch, dass sich Regierungsspitzel in die Mengen einschleichen. Doch der Aufruhr geht weiter. «Ich versichere Ihnen, die Proteste sind nicht vorbei», sagt Scharo. «Die Menschen sind wütend, sie lehnen sich auf eine Weise gegen die Polizei auf, wie ich es noch nie erlebt habe.»
Dass die Wut grösser ist als die Angst bestätigt die 38-jährige Afsanah. Auch sie hat sich den Demonstranten angeschlossen. Die Modedesignerin sagt zwar, dass sie das Kopftuch gerne trage. Sie protestiere aber, da es nie ihre eigene freie Wahl gewesen sei. Ihre Eltern fürchten um ihre Sicherheit und haben versucht, sie vom Demonstrieren abzuhalten.
Abhalten lassen sich die meisten Frauen nicht. Auch wenn die Telefon- und Internetverbindungen zeitweise unterbrochen sind, erscheinen regelmässig Videos der protestierenden Frauen in den sozialen Netzwerken. Einige schockieren. Andere berühren. Wie das Video einer Frau, die am Strassenrand steht und Umarmungen verteilt. Ohne Kopftuch. Dafür mit viel Mut und Liebe.