«Können nirgendwo anders hin» Die Hamas nimmt 2,3 Millionen im Gazastreifen als Geiseln

Issam Adwan/AP/phi

11.10.2023 - 12:34

Nach der beispiellosen Hamas-Attacke reagiert Israel mit Luftangriffen auf den Gazastreifen. Dort leben 2,3 Millionen Palästinenser auf engem Raum, Zufluchtsorte sind rar. Auch die Notunterkünfte der UN sind unsicher.

DPA, Issam Adwan/AP/phi

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  • Im Krieg zwischen Israel und der radikalislamischen Hamas erwarten Beobachter, dass Israel demnächst eine Bodenoffensive im Gazastreifen startet.
  • Mehr als zwei Millionen Menschen leben im Gazastreifen. Ihr Alltag wird seit Jahren beherrscht vom Konflikt mit Israel.
  • Die Hamas ist in dem Küstenstreifen am Mittelmeer allgegenwärtig. Die Zivilbevölkerung ist ihr ausgeliefert.

Die 27-jährige Palästinenserin Sabrin al-Attar im Gazastreifen fackelt nicht lange, als sie am 7. Oktober eine Rakete nach der anderen über das Ackerland von Beit Lahija just südlich der israelischen Grenze zischen hört.

Der Angriff der militanten islamistischen Hamas auf den jüdischen Staat hat begonnen, und Al-Attar weiss aus Erfahrung, dass Israel schnell und hart reagieren würde. So schnappt sie sich ihre Kinder und flieht in eine der Dutzenden Notunterkünfte für palästinensische Flüchtlinge, die in Schulen in der Stadt Gaza eingerichtet worden sind und von den Vereinten Nationen betrieben werden.

Mindestens 200'000 der insgesamt rund 2,3 Millionen Bewohner des Gazastreifens sind mittlerweile vor den israelischen Angriffen aus ihren Häusern geflohen, die meisten von ihnen haben Schutz in den UN-Schulen gesucht, in denen nun kaum noch Platz ist. Stundenlang donnern draussen Explosionen in einer Intensität, die sie noch nie zuvor erlebt haben, drinnen gehen ihnen Essen und Wasser aus.

Angst um die Kinder: «Ihr Leben ruht auf meinen Schultern»

Sie habe um ihrer Kinder willen hier Schutz gesucht, sagt Al-Attar, und ihre Hände zittern. «Ihr Leben ruht auf meinen Schultern.» Aber wirklichen Schutz oder gar ein Entkommen gibt es im Gazastreifen nicht, sagen viele. Luftschutzbunker existieren keine, wegen der von Israel verhängten Totalblockade sind die Grenzen komplett dicht und auch der Grenzübergang nach Ägypten wurde am 10. Oktober geschlossen.

Israel setzt Vergeltungsschläge fort

Israel setzt Vergeltungsschläge fort

Israel setzt seine Vergeltungsangriffe im gesamten Gazastreifen fortgesetzt. Die israelische Armee erklärte am Mittwoch, ihre Kampfflugzeuge hätten mehr als 200 Ziele in einem Viertel von Gaza-Stadt getroffen, das die Hamas am Samstag für ihre Angriffswelle genutzt hatte.

11.10.2023

Wenn Krieg ausbricht, wie es vier Mal geschehen ist, seit die Hamas 2007 die Macht im Gazastreifen an sich riss, fliehen viele in die UN-Einrichtungen. Aber auch die sind nicht immer ein sicherer Ort. So wird den Vereinten Nationen zufolge am 8. Oktober eine der Unterkünfte bei einem Luftangriff direkt getroffen, und fünf weitere werden am 9. Oktober beschädigt. Es gibt zunächst keine Berichte über Opfer.

Al-Attar hat geglaubt, dass ihr in der Gegend von Rimal, dem lebhaften Geschäftsbezirk in der Stadt Gaza mit seinen Hochhäusern, die internationale Medien und Hilfsorganisationen beheimaten, nichts passieren könne. Ist doch Rimal bisher kein unmittelbares Angriffsziel der Israelis gewesen – anders als Grenzstädte und dicht bevölkerte Flüchtlingslager.

«Wir können nirgendwo anders hingehen»

Aber als das israelische Militär eine Gegend nach der anderen aus der Luft ins Visier nimmt, erreichten die Bomben auch das Herz der Stadt Gaza, verwandelten ganze Strassenzüge in eine unbewohnbare Wüste von Kratern. Rimal ist auch im blutigen Krieg 2021 bei Luftangriffen getroffen worden, aber nicht in diesem Ausmass.

Raketen werden am 10. Oktober vom Gazastreifen aus nach Israel abgefeuert.
Raketen werden am 10. Oktober vom Gazastreifen aus nach Israel abgefeuert.
Keystone

Die israelischen Bomben, die Gazas Islamische Universität, Büros der Hamas-Regierung und Hochhäuser in Rimal treffen, zersprengen auch die Fensterscheiben in Al-Attars Unterkunft, Glassplitter sind überall verstreut, wie sie schildert. Das Leben hier, zusammengepfercht mit 1600 anderen Flüchtlingen, sei voller Gefahren und Entbehrungen.

Aber sie habe keine andere Wahl als zu bleiben, so die Mutter von zwei Söhnen, dem zweijährigen Mohammed und dem siebenjährigen Nabil. «Wir können nirgendwo anders hingehen.»

«Es gibt hier nie einen Plan B»

Der israelische Militärsprecher Richard Hecht schlägt noch am 10. Oktober vor, dass Palästinenser versuchen sollten, den Gazastreifen über den einzigen noch offenen Übergang Rafah an der Grenze zu Ägypten zu verlassen. Aber Stunden später ist er dicht, nachdem Israel Ziele in der Gegend beschossen hatte.

Und selbst wenn Ruhe herrscht, muss man in Rafah teilweise Tage oder sogar Wochen warten, um über die Grenze zu kommen. «Es gibt hier nie einen Plan B», sagt die 31-jährige Maha Hussaini, als sie verängstigte Einwohner von Rimal in ihre weiter südlich gelegenen Wohngegend in Gaza strömen sieht – just, als auch hier Bomben zu fallen beginnen.

Nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums im Gazastreifen wurden bei den israelischen Angriffen bis Dienstagabend am 10- Oktober rund 900 Menschen getötet und Tausende verletzt. Ähnlich viele kamen durch den Hamas-Angriff in Israel ums Leben.

Israel will zivile Opfer vermeiden

Israel betont, dass sich seine Angriffe auf Hamas-Einrichtungen konzentrierten und es darauf bedacht sei, zivile Opfer zu vermeiden. Aber das Gebiet ist dicht bebaut, es gibt kaum offene Flächen, und Israels Luftangriffe haben auch Wohngebiete getroffen.

Hinzu kommt, dass Hamas-Extremisten ihrerseits auch in zivilen Gebieten operieren und von dort aus Raketen gegen Israel abschiessen. Wenn Israel das Feuer erwidert, trifft es Häuser, Büros und Moscheen.

Einwohner beschreiben, wie sie sich von Ort zu Ort bewegen, um den Bomben zu entkommen – Flucht von daheim, Zuflucht in der Wohnung von Verwandten, danach in eine UN-Notunterkunft und dann wieder alles von vorn – im verzweifelten Versuch, wenigstens ein bisschen Gefühl von Sicherheit zu erhalten.

«Warum hat er uns nicht gesagt, wohin wir fliehen sollen?»

«Es ist besser als sterben», sagt der 37-jährige Mohammed al-Bischawi erschöpft, als von einer UN-Unterkunft in der Stadt Gaza zu seiner Wohnung in Beit Lahija hastet, um sich Essen und andere Vorräte zu beschaffen und dann wieder zurückzueilen.

Am 7. Oktober, nach dem massiven Hamas-Angriff, hat Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Zivilisten im Gazastreifen gewarnt, dass das israelische Militär mit voller Wucht zurückschlagen werde. «Geht fort, jetzt,» sagt er an die  Palästinenser in Gaza gerichtet.

Die 28-jährige Hind Chudari hört seiner Rede zu, als sich die israelischen Luftangriffe bereits verstärkten, sitzt in ihrem Haus fest, ohne einen Ausweg. «Warum hat er uns nicht gesagt, wohin wir fliehen sollen?», fragt sie. «Denn das wüssten wir wirklich gern.»