Gefängnisse zu voll Grossbritannien lässt Tausende Häftlinge vorzeitig frei

tjnj / dpa

13.7.2024

Grossbritanninens neue Justizministerin Shabana Mahmood beim Besuch eines Gefängnisses. Die neue Regierung erbt ein erhebliches Platzproblem in der Justizvollstreckung.
Grossbritanninens neue Justizministerin Shabana Mahmood beim Besuch eines Gefängnisses. Die neue Regierung erbt ein erhebliches Platzproblem in der Justizvollstreckung.
Bild: Joe Giddens/PA Wire/dpa

Grossbritanniens Justizsystem hat ein Problem: Die Gefängnisse sind zu voll. Die neue Regierung greift zu einer extremen Massnahme: Tausende Häftlinge sollen weniger als die Hälfte ihrer Strafe absitzen müssen.

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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Grossbritannien hat so gut wie keinen Platz mehr für neue Häftlinge.
  • Grund sind längere Haftstrafen und Verzögerungen bei Gerichtsprozessen, was einen Anstieg von Personen in Untersuchungshaft bedeutet.
  • Die neue Labour-Regierung versucht dem Problem in einer ersten Massnahme entgegen zu treten, indem sie Tausende Häftlinge vorzeitig entlässt.
  • Bereits nach dem Absitzen von 40 Prozent der eigentlichen Haftstrafe sollen die Insassen frei kommen.
  • Längerfristig wird, so glauben Expert*innen, eine Reform des Justizsystems notwendig werden.

Die Gefängnisse sind so voll, dass Tausende Häftlinge nun vorübergehend früher entlassen werden sollen, um Platz zu schaffen.

Grossbritanniens neue Justizministerin Shabana Mahmood findet drastische Worte für die Massnahme. «Wenn wir jetzt nicht reagieren, droht uns der Kollaps des Strafrechtssystems», warnt sie. «Und ein totaler Zusammenbruch von Recht und Ordnung.»

Viele Gefängnisse in England und Wales sind überlastet. Derzeit kommen 87'505 Häftlinge auf 88'956 nutzbare Plätze. Der Nachrichtenagentur PA zufolge sind für Männer noch etwa 700 Haftplätze frei. Bald könnte sich die Frage stellen, wo Straftäter noch untergebracht werden können.

Desaströse Zustände in Haftvollzugsanstalten

«Es ist schlimmer, als ich dachte», sagte der neue Premierminister Keir Starmer kürzlich. Die BBC zitierte einen Mitarbeiter eines Gefängnisses: «Wir haben zwei Häftlinge in einer Zelle untergebracht, in der die Toilette ausgelaufen ist. Wir hatten keinen anderen Ort. Der Gestank war so schlimm, dass man nicht atmen konnte.» Starmers sozialdemokratische Labour-Partei regiert erst seit kurzem und muss nun eine Lösung finden.

In einem ersten Schritt sollen Gefangene vorübergehend nur noch 40 Prozent ihrer Haftzeit absitzen müssen. Bisher konnten viele nach 50 Prozent der Zeit auf Bewährung freikommen. Nicht gelockert werden sollen Vorgaben zum Beispiel für Täter, die wegen schwerer Gewalttaten, Sexualstraftaten und häuslicher Gewalt inhaftiert sind.

Die Denkfabrik Institute for Government hat untersucht, wie es zu dieser Krise kommen konnte. In den vergangenen 30 Jahren habe sich die Zahl der inhaftierten Menschen verdoppelt, obwohl die Kriminalitätsrate rückläufig sei.

Die Gefängnisse in Grossbritannien, hier in Wandsworth bei London, sind überfüllt.
Die Gefängnisse in Grossbritannien, hier in Wandsworth bei London, sind überfüllt.
Sabrina Merolla/ZUMA Press Wire/dpa

Länge der Haftstrafen gestiegen

Ein Grund für die Krise seien längere Haftstrafen. Die Strafen, die 2023 an den Crown Courts – den Strafgerichtshöfen, die die schweren Fälle verhandeln – verhängt wurden, seien im Schnitt um ein Viertel länger gewesen als noch 2012.

Teils liege das daran, dass über mehr schwere Vergehen geurteilt worden sei. «Aber auch die gleichen Straftatbestände werden nun mit längeren Strafen bedacht», heisst es in dem Papier des Thinktanks. Das verhängte Strafmass für Raub beispielsweise sei im vergangenen Jahr 13 Monate länger gewesen als 2012.

Das britische Justizsystem setzt ohnehin eher auf Strafe als auf Resozialisierung. In besonders schwerwiegenden Fällen kann eine «whole-life order» verhängt werden: eine lebenslange Haftstrafe, bei der Menschen tatsächlich nie wieder auf freien Fuss kommen sollen.

Gerichte kommen nicht nach

Der Denkfabrik zufolge ist in den vergangenen Jahren vor allem die Zahl der Menschen gestiegen, die in Untersuchungshaft sitzen – weil sich viele Fälle bei den Gerichten stauen – oder sie zurück in Haft müssen, weil sie gegen Bewährungsauflagen verstossen haben. Das verheerende Fazit: Mehrere Justiz- und Premierminister hätten sich nicht gekümmert.

Kritiker*innen warnen, vorzeitige Entlassungen würden auch ein Risiko bergen und könnten sogar neue Probleme schaffen. Schon Notfallmassnahmen der früheren Regierung sahen vor, dass Straftäter bis zu zehn Wochen früher entlassen werden können.

Teilweise herrsche Durcheinander, schreibt das Institute for Government. Viele hätten noch keine Wohnung, was das Bewährungssystem vor Herausforderungen stelle.

Die Mindestzeit zu reduzieren, ist aus Sicht der Denkfabrik grundsätzlich eine wirksame Idee. Zudem könne man darüber nachdenken, mehr Menschen bei leichten Vergehen mit einer elektronischen Fussfessel in den Hausarrest zu schicken. Auf lange Sicht aber müssten mehr Gefängnisse gebaut und das Strafmasssystem überdacht werden.