Fragen und AntwortenDie Ukraine ist EU-Kandidatin – und jetzt?
dpa
24.6.2022 - 00:00
Seit Monaten drängelt der ukrainische Präsident fast täglich, dass sein Land in die EU aufgenommen werden soll. Nun ist ein erster Schritt gemacht. Aber was bedeutet das überhaupt?
24.06.2022, 00:00
24.06.2022, 10:34
dpa
Wenn es um die Frage eines möglichen EU-Beitritts ging, wurde die Ukraine immer wieder vertröstet. Russlands Krieg gegen das osteuropäische Land hat nun unerwartet Tempo in die Annäherung Kiews an die EU gebracht. Bei einem Gipfel in Brüssel wurde nun eine historische Entscheidung getroffen: Die Ukraine ist jetzt EU-Beitrittskandidat.
Relevant ist der Status vor allem psychologisch und symbolisch. Die EU zeigt den mehr als 40 Millionen Ukrainern, dass sie eine Perspektive haben, EU-Bürger zu werden. Er soll zudem ein Zeichen sein, dass es sich lohnt, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen. «Die Ukraine steht an der Frontlinie und verteidigt europäische Werte», sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kürzlich.
Ist der Kandidatenstatus mit Finanzhilfen verbunden?
Einen Automatismus zwischen Kandidatenstatus und Finanzhilfe gibt es nicht. Für die Beitrittskandidaten sind von 2021 bis 2027 allerdings insgesamt 14,16 Milliarden Euro als sogenannte Heranführungshilfen eingeplant. Das Geld soll Reformen unterstützen, die Auszahlung muss jedoch von den Mitgliedstaaten bewilligt werden. Unterm Strich dürften die Finanzhilfen aber ohnehin nur ein Tropfen auf den heissen Stein sein. Der Wiederaufbau der hoch verschuldeten Ukraine wird ersten Schätzungen zufolge weit mehr als eine Billion Euro kosten.
Wie lange es vom Kandidatenstatus bis zum EU-Beitritt?
Das kann niemand vorhersagen. Die Türkei etwa wurde 1999 EU-Kandidat – und war wohl noch nie weiter von einer Mitgliedschaft entfernt als heute. Relevant ist auch, dass jeder Schritt der Annäherung einstimmig von den EU-Staaten beschlossen werden muss. Theoretisch kann ein Beitrittskandidat auch nie Mitglied werden.
Wie geht es jetzt für die Ukraine weiter?
Die Staats- und Regierungschefs stellten sich hinter eine Empfehlung der EU-Kommission. Demnach muss das Land vor dem Beginn von Beitrittsverhandlungen zunächst sieben Voraussetzungen erfüllen. Es geht unter anderem um das Auswahlverfahren ukrainischer Verfassungsrichter und eine stärkere Korruptionsbekämpfung – insbesondere auf hoher Ebene. Auch fordert die EU-Kommission, dass Standards im Kampf gegen Geldwäsche eingehalten werden und ein Gesetz gegen den übermässigen Einfluss von Oligarchen umgesetzt wird.
Kann die Ukraine diese Voraussetzungen in absehbarer Zeit erfüllen?
Das ist äusserst unwahrscheinlich. Der Europäische Rechnungshof stellte dem Land noch im September ein verheerendes Zeugnis aus. «Obwohl die Ukraine Unterstützung unterschiedlichster Art vonseiten der EU erhält, untergraben Oligarchen und Interessengruppen nach wie vor die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine und gefährden die Entwicklung des Landes», hiess es damals.
Zwar hätten EU-Projekte und EU-Hilfe dazu beigetragen, die ukrainische Verfassung sowie eine Vielzahl von Gesetzen zu überarbeiten. Die Errungenschaften seien allerdings ständig gefährdet, und es gebe zahlreiche Versuche, Gesetze zu umgehen und die Reformen zu verwässern. Das gesamte System der strafrechtlichen Ermittlung und Strafverfolgung sowie der Anklageerhebung bei Korruptionsfällen auf höchster Ebene sei alles andere als gefestigt.
Ist die EU überhaupt in der Lage, weitere Länder aufzunehmen?
Die Europäische Union gilt vielen schon jetzt – mit 27 Mitgliedern – als behäbig. Weil in Bereichen wie der Aussenpolitik Entscheidungen einstimmig getroffen werden müssen, kommt es immer wieder zu Blockaden. Kanzler Olaf Scholz (SPD) mahnt deshalb, die EU müsse sich «erweiterungsfähig» machen. Dazu gehöre auch, für einige Entscheidungen das Prinzip der Einstimmigkeit aufzuheben. Jedoch ist sehr unwahrscheinlich, dass alle Staaten bereit sind, ihr Veto-Recht aufzugeben.
Welche Rolle spielt Russlands Krieg auf dem EU-Weg der Ukraine?
Vermutlich eine zweischneidige. Auf der einen Seite hätte die Ukraine ohne den Krieg wohl niemals so schnell den Kandidatenstatus bekommen. Auf der anderen Seite dürfte der Krieg die Bemühungen erschweren, die Auflagen für den Beginn der Beitrittsverhandlungen zu erfüllen. Zudem gilt es als ausgeschlossen, dass die Ukraine vor Kriegsende EU-Mitglied wird. Denn dann könnte Kiew nach Artikel 42, Absatz 7 des EU-Vertrags militärischen Beistand von anderen EU-Staaten einfordern – die EU wäre offiziell Kriegspartei.
Welche Länder streben noch in die Europäische Union?
Bereits seit längerem Beitrittskandidaten sind neben der Türkei die Länder Albanien, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien. Hinzu kommen Bosnien-Herzegowina und das Kosovo als sogenannte potenzielle Kandidaten. Kurz nach der Ukraine hatten sich im März auch Georgien und Moldau beworben. Moldau wurde beim EU-Gipfel wie die Ukraine zum EU-Kandidaten gemacht. Georgien soll zunächst Reformen erfüllen, ehe es so weit ist. Die Hoffnungen der Balkan-Staaten auf Fortschritt wurden bei einem gemeinsamen Treffen mit der EU am Donnerstag enttäuscht.
Vorwürfe statt Fortschritte bei EU-Westbalkan-Gipfel
Vorwürfe und Enttäuschung statt konkreter Fortschritte: Das Spitzentreffen der EU mit den Westbalkan-Ländern ist in Brüssel ohne Annäherung zu Ende gegangen.