Lagebild Ukraine «Erbitterte Kämpfe» – Selenskyjs Armee beisst sich durch

Von Philipp Dahm

15.6.2023

Ukraine meldet kleinere Geländegewinne – Kämpfe «extrem heftig»

Ukraine meldet kleinere Geländegewinne – Kämpfe «extrem heftig»

Die Ukraine hat am Mittwoch kleinere Geländegewinne im Rahmen ihrer Gegenoffensive gemeldet. Die Kämpfe seien «extrem heftig», erklärte Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maliar. Die ukrainischen Soldaten hätten im Laufe des Tages auch bis zu 500 Meter in den Gebieten nahe der zerstörten Stadt Bachmut zurückerobert. Maliar beschrieb später im ukrainischen Fernsehen die Verluste ihrer Truppen als deutlich niedriger als die der russischen Seite. Die Angaben konnten von unabhängiger Seite nicht überprüft werden.

15.06.2023

Die ukrainischen Streitkräfte arbeiten sich in West-Donezk mühsam weiter vor. Sie setzen auf Angriffe in der Dunkelheit: Zum einen haben sie die besseren Nachtsichtgeräte – und zum anderen fehlt ihnen die Lufthoheit.

Von Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • «Erbitterte Kämpfe»: Die russische Armee hat sich gut auf die ukrainische Gegenoffensive vorbereitet.
  • Bisher die grössten Fortschritte machen ukrainische Streitkräfte in Westen von Donezk.
  • In Saporischschja haben Kiews Kräfte bei Orichiw Verluste auch von westlichem Material hinnehmen müssen.
  • Der Vorteil der Russen ist neben starken Befestigungen die Lufthoheit. Kiew kann dafür nachts besser kämpfen als der Gegner.
  • In Bachmut liefern sich die Kriegsparteien angeblich Häuserkämpfe.

Wie läuft der Auftakt der ukrainischen Gegenoffensive? Es gibt «erbitterte Kämpfe», räumt Hanna Maliar, stellvertretende Verteidigungsministerin, auf Telegram ein. 

Hochrangige Offizielle aus dem Westen überrascht das nicht. «Russische Kräfte haben im Allgemeinen eine gute Abwehr durch ihre gut vorbereiteten und gut verteidigten Positionen aufgebaut und lassen sich zwischen den taktischen Linien zurückfallen», zitiert die britische BBC.

«Dieser ‹Manövrieren-und-verteidigen-Ansatz› entpuppt sich für die Ukrainer als herausfordernd und ist für die angreifenden Kräfte teuer», heisst es weiter. «Daher war der Fortschritt bisher langsam.» Es sei aber noch zu früh, um ein Resümee zu ziehen – und auch nicht überraschend, dass es nicht schneller geht.

Drei Angriffsvektoren im Süden

Die bisher grössten Erfolge hat Kiew im Süden vorzuweisen. Hier greifen die ukrainischen Streitkräfte in drei Vektoren an: in Oblast Saporischschja bei Orichiw, in West-Donezk bei Welyka Nowosilka und bei Wuhledar im Oblast Donezk.

Von Orichiw aus ist Melitopol das Ziel des ukrainischen Vorstosses. Von Welyka Nowosilka und Wuhledar würde es nach Mariupol gehen. Die drei Angriffsektoren haben eine Front von 80 Kilometern, hat der YouTube-Kanal Good Times Bad Times nachgerechnet.
Von Orichiw aus ist Melitopol das Ziel des ukrainischen Vorstosses. Von Welyka Nowosilka und Wuhledar würde es nach Mariupol gehen. Die drei Angriffsektoren haben eine Front von 80 Kilometern, hat der YouTube-Kanal Good Times Bad Times nachgerechnet.
Screenshot: YouTube/Good Times Bad Times

Ein Problem sind dabei Minen, Artillerie und die fehlende Lufthoheit: Ein russisches Video hat vor einigen Tagen gezeigt, wie ein Ka-52-Helikopter in Saporischschja mehrere ukrainische Fahrzeuge angreift.

Das bremst die Orichiw-Attacke ebenso aus, wie die starken Verteidigungsstellungen: Der Kreml hat den Vorstoss über Tokmak nach Melitopol klar vorhergesehen.

Wegen der russischen Gegenmassnahmen beklagt Kiew die Zerstörung von etlichem Material. Laut Oryx sind bisher folgende folgende Verluste visuell bestätigt: Ein Leopard 2A4 und ein Leopard 2A6 sind demnach vernichtet worden, zwei weitere Leopard 2A6 wurden aufgegeben.

Ukrainische Armee rückt in West-Donezk weiter vor

Zwei französische AMX-10 RC wurden ebenfalls zurückgelassen. Hinzu kommen 16 Schützenpanzer vom Typ Bradley, von denen viele bei dem oben gezeigten Kampfhelikopter-Angriff bei Orichiw getroffen worden sind. Mittlerweile hat Wolodymyr Selenskyjs Militär jedoch reagiert.

Die ukrainischen Streitkräfte haben nach eigenen Angaben 300 russische Helikopter zerstört.
Die ukrainischen Streitkräfte haben nach eigenen Angaben 300 russische Helikopter zerstört.
Gemeinfrei

Ein Ka-52 sei abgeschossen worden, meldet das Militär. Nach eigenen Angaben war es der 300. russische Helikopter. Oryx weiss von 90 entsprechenden Verlusten. Die Zahlen lassen sich nicht überprüfen.

Und wie sieht es nun mit dem Fortschritt am Boden aus? Der Vorstoss in West Donezk kommt voran. Zur Erinnerung: So hat dieser angefangen.

Kiews Militär hält im Süden mit Drohnen und Artillerie dagegen, doch das Fehlen von Kampfflugzeugen macht sich schmerzlich bemerkbar. Ein BBC-Reporter, der aus dem gerade befreiten Neskuchne berichtet, konstatiert, dass um jeden Quadratmeter heftig gekämpft wird.

Kiews Artillerie trifft Auflauf russischer Soldaten

Einen Vorteil hat die ukrainische Armee: Sie ist mit besseren Nachtsicht-Geräten ausgestattet. Viele Vorstösse finden inzwischen nach Einbruch der Dunkelheit statt, weil nicht nur Soldaten, sondern auch Fahrzeuge wie der Leopard 2 oder der Bradley die Nacht zum Tag machen können, weiss der britische «Telegraph».

An den weiteren Frontabschnitten weiter nördlich gibt es kaum Bewegung. In Bachmut liefert Kiews Armee laut Hanna Maliar Häuserkämpfe am Stadtrand und ist 200 bis 500 Meter vorgerückt. Die ukrainischen Angriffe auf die Dörfer Klischtschijwka im Süden und Yahidne im Norden der Stadt halten an.

Auch in Luhansk wird gekämpft. Zu sehen ist das im obigen Video von dem russischen Soldaten, der sich einer Drohne ergibt. Und wie sich das anhört, ist im unten stehenden Tweet nachzuempfinden.

In diesem Gebiet ist ausserdem angeblich ein russischer Aufmarsch unter Artilleriefeier genommen worden. Die Soldaten haben demnach auf eine Ansprache ihres Kommandanten gewartet: 200 von ihnen sollen getötet worden sein.

Waffen-Update

Der Westen versucht mit Blick auf Waffenlieferungen, der neuen Situation Rechnung zu tragen. Die US-Regierung hat angekündigt, schnell Ersatzteile für den Schützenpanzer Bradley und den gepanzerten Stryker zu schicken. Deutschland hat sich ausserdem angeblich mit Warschau über den Aufbau eines Reparaturzentrums für westliche Waffen in Polen geeinigt.

Apropos Deutschland: Berlin gibt offenbar den Widerstand gegen die Lieferung von Kampfjets auf. «Wir sind gerade in einer Phase, in der wir überdenken und prüfen, was wir tun wollen und können», sagt Boris Pistorius der «Deutschen Welle». Die Bundesrepublik müsse umdenken, so der Verteidigungsminister.

Wolodymyr Selenskyj erwartet offenbar, dass sein Land bald «eine signifikante Zahl» von F-16-Jets bekommen wird. Kiew hat inzwischen auch in Australien angefragt, ob 41 überzählige F/A-18-Jets übergeben werden könnten. Die westlichen Flugzeuge werden allerdings nicht vor Herbst auf dem Schlachtfeld eintreffen.