China, Corona und Xi Jingping«Eine plötzliche Öffnung könnte über eine Million Todesfälle verursachen»
Von Julian Weinberger
4.12.2022
China lockert Corona-Auflagen weiter
Trotz hoher Neuinfektionszahlen wurden in der Hauptstadt Peking Teststationen geschlossen und abgebaut. Vor den verbliebenen Einrichtungen bildeten sich lange Schlangen.
03.12.2022
Die Proteste von Chinesen im ganzen Land zeigen Wirkung: Nach den Massendemonstrationen verkündeten einige Metropolen Corona-Lockerungen. Doch was bedeutet das für Xi Jinpings Autorität?
Von Julian Weinberger
04.12.2022, 17:00
Julian Weinberger
Es waren Bilder, wie man sie lange nicht aus China gesehen hat. Tausende Menschen hatten sich am vergangenen Wochenende landesweit zu Massenprotesten versammelt und auch unter der Woche gingen die Demonstrationen weiter. Die Geduld der Bevölkerung mit der staatlichen Führung und deren Null-Covid-Strategie ist am Ende.
Und tatsächlich scheinen die grössten Proteste seit der blutigen Niederschlagung der Friedensbewegung 1989 im autokratischen Regime Wirkung zu zeigen. Schon unter der Woche, beim Peking-Besuch von EU-Ratspräsident Charles Michel, räumte Chinas Machthaber Xi Jinping ein, dass die Menschen «frustriert seien». Augenzeugen zufolge habe er sogar einen Richtungswechsel im Umgang mit der Pandemie angedeutet.
Zwar verzichtete Xi öffentlich bis dato auf derartige Lippenbekenntnisse. Trotzdem offenbaren sich erste Risse in Chinas knallharten Corona-Kurs. Am Samstag hiess es aus Shenzhen im Süden des Landes, es brauche für den öffentlichen Nahverkehr keinen Negativtest mehr. Gleiches gelte für den Zugang zu Apotheken, Parks und Touristenattraktionen.
Auch in der Hauptstadt Peking waren Einwohnerinnen und Einwohner ab Montag Lockerungen beschlossen worden – trotz Neu-Infektionen, die zuletzt am landesweiten Rekordwert kratzten.
WHO forderte weitere Abkehr von Null-Covid-Strategie
Die Regierung sei angesichts der grossflächigen Demonstrationen mit «einer neuen Situation und neuen Aufgaben bei der Prävention und Bekämpfung der Epidemie» konfrontiert, liess auch Vizepremierministerin Sun Chunlan verlauten. Sie verantwortet die landesweite Corona-Politik.
Sein Übriges zum zaghaften Einlenken der Behörden durfte auch der Druck aus dem Ausland beigetragen haben. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) etwa wertete die teilweise Abkehr Chinas von der Null-Covid-Strategie als richtigen Schritt. Gleichzeitig machte WHO-Experte Mike Ryan klar, er erwarte auch von China, bei den Corona-Massnahmen in Dialog mit seinem Volk zu treten: «Wir wollen, dass diese Änderung erfolgt und auch an Tempo gewinnt.»
In der USA unterzeichneten am Freitag Dutzende von Senatoren einen Brief an den chinesischen Botschafter in den USA. Darin warnten die grösstenteils republikanischen Vertreter «eindringlich davor, noch einmal gewaltsam gegen friedliche chinesische Demonstranten vorzugehen, die einfach nur mehr Freiheit wollen». Sollten Proteste weiterhin gewaltsam unterbunden werden, drohten sie mit «schwerwiegenden Folgen für die Beziehungen zwischen den USA und China».
Chinas Zensurmaschinerie stottert nur kurz
Gleichwohl gehen Xi Jinpings Behörden resolut gegen die unliebsamen Demonstranten vor, teils mit Polizeigewalt, teils mit hochmodernen Helfern. Basierend auf den Ergebnissen von Video-Gesichtserkennung erfasst die Polizei Daten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Protesten. Festnahmen sind an der Tagesordnung.
Dazu arbeiten Online-Zensoren auf Hochtouren, um Videos und Bilder von den Demonstrationen möglichst umgehend aus den sozialen Medien zu entfernen. Doch die Stimme des Volkes lässt sich nicht permanent unterdrücken, wie sich nach dem Brand in Ürümqi, dem Auslöser der Demonstrationen, zeigte. Kurzzeitig drohte dem staatlichen Zensurapparat die Situation zu entgleiten.
Zunächst drangen Zeugnisse der Tragödie, bei der mindestens zehn Personen starben, über die Plattform WeChat nach aussen. Danach bezogen sich Menschen über Metaphern und Wortspiele auf den verhängnisvollen Brand. Auch hier benötigten Zensoren Zeit, um die Verbreitung der für sie unliebsamen Nachrichten einzudämmen.
«Das chinesische Volk ist weder dumm noch schwach»
Und doch zeigen die Proteste: Das Klima in China hat sich verändert, die Angst vor den Mühlen des Regimes hat abgenommen. Massenweise geäusserte Kritik am Anti-Covid-Kampf, Rufe nach mehr Pressefreiheit und teils persönliche Kritik an Xi Jinping («China braucht keinen Kaiser») gab es in China über Jahrzehnte nicht. «Das ist ein grosser Schritt in der Volksrepublik China. Weil diese Menschen wissen, was mit ihnen passieren kann», machte China-Kenner Ralph Weber im Gespräch mit «blueNews» deutlich.
«Das chinesische Volk ist weder dumm noch schwach. Das sollte dich erzittern lassen, Xi Jinping», wandte sich zuletzt auch Dissident und Anführer der Studentenproteste 1989, Wu'er Kaixi, gegenüber dem «Tagesspiegel», direkt an den chinesischen Führer. Die Proteste gäben ihm Hoffnung, erfüllten ihn aber auch mit Angst, denn: «Ich will auf keinen Fall ein zweites Massaker sehen.»
Laut Vincent Brussee, der am Berliner Mercator Institute for China Studies (MERICS) unter anderem zur chinesischen Regierungsführung und Gesellschaft forscht, seien Menschen, die Xis Rücktritt forderten, aber in der Minderheit. Dem «Münchner Merkur» sagte er: »Es ist unwahrscheinlich, dass diese Proteste die Herrschaft der kommunistischen Partei wirklich systematisch bedrohen werden.» Dazu seien Chinas Behörden zu erfahren im Umgang mit der Niederschlagung von Protesten.
Xi Jinpings Ruf in der Bevölkerung leidet
Festzuhalten bleibt aber, dass der Umgang mit der Pandemie den Rückhalt Xi Jinpings in der chinesischen Bevölkerung geschwächt hat. Zu Beginn der Pandemie schien die Null-Covid-Strategie noch voll zu greifen. Doch spätestens seit es Länder im Ausland geschafft haben, ohne tiefgreifende Einschränkungen mit dem Virus zu koexisitieren, steigt auch der Druck auf Chinas Regierung.
Die Bevölkerung ist müde von Massentests und Zwangsquarantäne, die Impfquote gerade bei älteren Chinesinnen und Chinesen lässt weiterhin zu wünschen übrig. Und auch politisch treten erste, wenn auch kleine Zeichen zutage, die der lange Jahre ungezügelten Macht Xis Abbruch tun.
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IWF-Chefin Kristalina Gregorieva warnt vor einem Wirtschaftseinbruch in China – wegen der ständigen Lockdowns und Problemen im Immobiliensektor.
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Beim Parteitag der Kommunistischen Partei Ende Oktober etwa verzichtete das Gremium darauf, zentrale politische Konzepte von Xi in die Parteiverfassung zu übernehmen. Setzt sich dieser Trend fort, muss der 69-Jährige beim Nationalen Volkskongress im März womöglich weitere Zugeständnisse machen.
Folgen für Chinas Wirtschaft sind unübersehbar
«China ist bereits mit einem turbulenten globalen Umfeld und schwierigen wirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert, und die sich rasch ausweitende Covid-19-Krise bereitet der Führung nun zusätzliche massive Kopfschmerzen», so Vincent Brussee gegenüber dem «Münchener Merkur».
Der lange etablierte Narrativ, Chinas Wirtschaft und damit der Lebensstandard der Einwohner würde sich permanent in einer Aufwärtsspirale befinden, scheitert derzeit an der Realität. Ein Mehr an sozialer Ungleichheit steht stagnierenden Gehältern gegenüber. Auf Reformen verzichtet Xi Jinping aber, setzt stattdessen auf starke staatliche Kontrolle der Wirtschaft.
Drängender dürften vorerst die Fragen nach einer zukunftsweisenden Corona-Strategie sein – für die chinesische Bevölkerung ebenso wie für die politische Führung. Experte Vincent Brussee weiss: «Eine plötzliche Öffnung könnte über eine Million Todesfälle verursachen. Xi Jinping muss daher seine Optionen sorgfältig abwägen und einen strategischen Fahrplan aufstellen.»