China-Experte über die Proteste«Das Regime herauszufordern, ist schwierig»
Von Andrea Moser
28.11.2022
Kurz erklärt: Kreativer Protest in China
Wie protestiert man gegen die Regierung in einem Land, in dem Proteste verboten sind? Die Demonstranten in China haben kreative Wege gefunden, um ihrem Unmut Luft zu machen – zum Beispiel mit leeren weissen Blättern.
28.11.2022
Chinesinnen und Chinesen gehen auf die Strasse und protestieren. Sie gehen damit ein hohes Risiko ein. China-Kenner Ralph Weber sieht mehrere aussergewöhnliche Aspekte in den Demonstrationen.
Von Andrea Moser
28.11.2022, 19:57
29.11.2022, 06:41
Andrea Moser
In China brodelt es wie seit Jahrzehnten nicht mehr: Es sind die grössten Demonstrationen seit der Demokratiebewegung 1989 in China, die das Militär damals blutig niedergeschlagen hatte. Am Wochenende gab es Protestmärsche in der Hauptstadt Peking und anderen Millionenstädten wie Shanghai, Chengdu, Chongqing, Wuhan, Nanjing, Xi'an und Guangzhou. Sie richteten sich gegen die strikten Massnahmen der chinesischen Null-Covid-Politik wie wiederholte Lockdowns, Corona-Massentests und Zwangsquarantäne.
China hat viel investiert, um eine zweite Demokratiebewegung zu verhindern
Trotzdem sei die Situation momentan ganz anders als damals im Jahr 1989, sagt China-Experte Ralph Weber, Professor an der Universität Basel, im Gespräch mit blue News. «Man muss vorsichtig sein mit der Einschätzung. Viele machen den Verweis auf Tian’anmen, aber da sind wir noch ein ganzes Stück entfernt.» Das chinesische Regime habe viel investiert, damit sich ein solcher Vorfall nicht wiederholen könne.
Der Staat verfüge inzwischen über riesige Überwachungsmöglichkeiten. Zudem ist jede dreizehnte Person Mitglied der herrschenden Kommunistischen Partei. «Die Schrauben wurden mehr und mehr angezogen, damit ein Absprechen und Organisieren nicht mehr in dieser Form möglich ist. Die Demonstrierenden sind in einer viel schwächeren Position als damals», sagt Weber.
Ein grosser Unterschied zu damals sei ausserdem, dass die aktuellen Proteste noch kaum organisiert und koordiniert, sondern spontan seien. Man werde sehen, sagt Weber. «Das Regime herauszufordern, ist eine schwierige Sache.»
«Es scheint, dass die Menschen finden, das muss jetzt irgendwie raus»
Auslöser der seltenen öffentlichen Unmutsbekundungen war ein Wohnungsbrand in der Metropole Ürümqi in Xinjiang in Nordwestchina am Donnerstagabend mit mindestens zehn Toten. Viele äusserten den Verdacht, dass die Rettungsarbeiten durch die strengen Corona-Massnahmen behindert wurden.
Das habe viele Chinesinnen und Chinesen erschüttert, sagt Weber. «Weil sie sich vorstellen können, dass auch ihre Tür wegen eines Lockdowns verriegelt wird und ihnen das Gleiche passieren kann.» Unter den Demonstrierenden seien auffällig viele junge Menschen und Frauen. «Es scheint, dass die Menschen finden, das muss jetzt irgendwie raus.»
Auch dass sich Protestierende in Peking teilweise mit den festgenommenen Demonstranten aus Shanghai solidarisiert und deren Freilassung gefordert hätten, sei aussergewöhnlich. «Das ist durchaus eine politische Qualität, die wir in China äusserst selten sehen.»
«Das ist ein grosser Schritt in der Volksrepublik China»
Ebenfalls aussergewöhnlich und selten für China sei auch die Gleichzeitigkeit vieler Proteste, die sich offensichtlich aufeinander beziehen. Grundsätzlich werde in China täglich protestiert. «Man darf von etwa 200 Protesten pro Tag ausgehen», sagt Weber. Allerdings seien es meistens lokale Angelegenheiten. Beispielsweise unzufriedene Arbeitnehmer*innen, die ihren Lohn nicht erhalten. Oder Studierende, die unzufrieden mit ihrer Universität sind.
Auch dass die Protestierenden sich expliziert gegen den chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping wenden, sei ungewöhnlich für China. In einem Video, das von der Nachrichtenagentur AP verifiziert wurde, skandierte eine Menschenmenge in Shanghai am Samstag: «Xi Jinping! Tritt zurück!» Das sei happig und habe auch direkte Konsequenzen, so Weber. «Das ist ein grosser Schritt in der Volksrepublik China. Weil diese Menschen wissen, was mit ihnen passieren kann.»
Demonstrierende gehen hohes Risiko ein
Dass China mit Demonstranten nicht zimperlich umgeht, ist bekannt. «Bereits während des Demonstrierens müssen sie davon ausgehen, dass Gewalt auf sie ausgeübt wird. Sie müssen auch damit rechnen, dass sie in Polizeigewahrsam genommen werden, was ebenfalls mit Gewalt verbunden sein kann.»
Dazu kommt, dass der Staat die Identität der Demonstrierenden aufnimmt. Das hat Auswirkungen auf den Alltag. «Sie müssen damit rechnen, dass sie einige Privilegien verlieren oder schikaniert werden.» Die Reisefreiheit könne beispielsweise massiv eingeschränkt werden. Das sei aber nur das Mindestmass an Konsequenzen.
Viel härter bestraft werden Demonstranten, die das chinesische Staatsoberhaupt Xi Jinping öffentlich verbal angreifen. «Wenn jemand beispielsweise ‹Nieder mit Xi Jinping› ruft, kann das als Subversion gedeutet werden. Dafür droht in China eine längere Gefängnisstrafe. Aus einem Gefängnis in der Volksrepublik China kommt noch lange nicht jede und jeder unbeschadet raus», sagt Weber. Trotzdem nehmen aktuell einige Chinesinnen und Chinesen dieses Risiko in Kauf. «Die Leute müssen sehr verzweifelt sein, da muss sich vieles angestaut haben.»
Demonstranten in China lassen Wut an Polizisten aus
In Shanghai sind am Wochenende, wie in vielen weiteren chinesischen Metropolen, Menschen gegen die Null-Covid-Politik der Regierung auf die Strassen gegangen. Viele Bürger richten ihre Wut verbal gegen die Polizisten.
28.11.2022
Corona-Höchststand trotz strikter Regeln
Den Grund dafür sieht Weber mitunter in der strengen Corona-Strategie und den zahlreichen Lockdowns. Hie und da sickere durch, dass es in anderen Ländern ganz anders laufen würde. Beispielsweise, dass Fans an der WM in Katar ohne Maske im Stadion sitzen. «Da fragen sich einige: Warum ist das bei uns nicht auch möglich?» Dazu komme, dass die Corona-Zahlen trotz strikter Massnahmen wieder steigen.
China wird aktuell von der schlimmsten Corona-Welle seit Beginn der Pandemie vor knapp drei Jahren heimgesucht. Am Montag wurden 40'000 Neuinfektionen und damit wieder einen Höchststand gemeldet. Hunderte Millionen Menschen dürften landesweit von Lockdowns betroffen sein, schätzen Experten. Am Montag hat China zwar vereinzelte Corona-Lockerungen angekündigt, hält aber weiterhin an der Null-Covid-Politik fest.
Proteste ändern kaum etwas
Inzwischen hat das Regime die Polizeipräsenz in mehreren Metropolen massiv verstärkt. Polizisten untersuchten auch Handys von Passanten nach verdächtigen Informationen, wie Augenzeugen in sozialen Medien berichteten.
Auch will die Regierung nichts von Unzufriedenheit im Volk über ihre Null-Covid-Massnahmen wissen. «Was sie ansprechen, spiegelt nicht wider, was in Wirklichkeit passiert ist», sagte Aussenamtssprecher Zhao Lijian in Peking auf eine Journalistenfrage nach den Demonstrationen mit Tausenden Teilnehmern in mehreren Metropolen.
Dass die chinesische Regierung etwas ändert, damit sich das Volk beruhigt, glaubt Weber nicht. Das Regime sei vermutlich der Ansicht, es könne die Proteste aussitzen. Immerhin mache der Iran aktuell ja das Gleiche. «Wenn das der Iran kann, kann die Volksrepublik China das erst recht. Sind die Proteste erstickt, geht es gleich weiter wie vorher.»