Viele Feinde Ein vergifteter Nawalny kommt nicht nur dem Kreml gelegen

Ulf Mauder, dpa

27.8.2020

Hat viele Feinde: Alexej Nawalny bei einer Gerichtsverhandlung im Jahr 2017.
Hat viele Feinde: Alexej Nawalny bei einer Gerichtsverhandlung im Jahr 2017.
Archivbild: Keystone

Als schärfster Kritiker von Putin liegt Alexej Nawalny seit fast einer Woche im Koma. Und obwohl im Westen alles auf den Kreml blickt: Auch andere Akteure könnten hinter der mutmasslichen Vergiftung stecken.

Ärzte ringen seit einer Woche um das Leben von Russlands berühmtestem Kremlkritiker Alexej Nawalny. Der 44-Jährige liegt weiterhin im Koma – allem Anschein nach einer Vergiftung in seiner Heimat. Nun ist er in der Obhut deutscher Spezialisten der Charité in Berlin.

Während auch Nawalnys Unterstützer auf eine Rettung des Familienvaters und profilierten Anti-Korruptionskämpfers hoffen, werden Fragen lauter, wer Nawalny vergiftet haben könnte. Feinde hat er viele: Im Machtapparat, unter den Oligarchen, die mit dem Kreml in Verbindung stehen – und zuletzt sogar in Weissrussland, wo er die Proteste gegen Staatschef Alexander Lukaschenko unterstützte.

Moskau reagiert genervt: «Wem nützt es?»

Gereizt reagierten in Russland Kreml und Aussenminister auf Fragen, ob Moskau oder gar Präsident Wladimir Putin persönlich etwas mit dem Fall zu tun haben könnten. «Wir können uns nicht ernsthaft zu den von Ihnen erhobenen Anschuldigungen äussern. Diese Vorwürfe können in keiner Weise wahr sein», meinte Kremlsprecher Dmitri Peskow.

Das Aussenministerium stellte die in Russland populäre Gegenfrage in solchen spektakulären Fällen und gab gleich die Antwort: «Wem nützt es? Der russischen Führung ganz sicher nicht.»



Die Staatspropaganda hat nicht nur einmal versucht, dem Westen selbst ein Interesse an solchen Anschlägen zu unterstellen. Nach dieser Logik wollten Feinde Russlands etwa Sanktionen gegen das Riesenreich erwirken und nutzten solche womöglich selbst verübten Verbrechen als Vorwand, um das Land zu bestrafen.

Das gehört vor allem in die Reihe der Verschwörungstheorien. Das Aussenministerium kritisierte aber auch Reflexe «westlicher Medien», auf frühere Verbrechen gegen Kremlkritiker oder Verräter hinzuweisen.

Nach Tee qualvoll gestorben

Der Putin-Kritiker Alexander Litwinenko etwa starb 2006 in London qualvoll an einer Vergiftung mit dem Strahlengift Polonium 210, nachdem er Tee getrunken hatte.

Der frühere Geheimdienstler Sergej Skripal und seine Tochter überlebten 2018 nur knapp einen Anschlag mit dem Nervengift Nowitschok.

Auch in Russland starben viele Kritiker Putins. Erschossen wurden etwa die Journalistin Anna Politkowskaja (2006), die Menschenrechtlerin und Reporterin Natalja Estemirowa (2009) und der Oppositionelle und frühere Vize-Regierungschef Boris Nemzow (2015).

Die Liste der Mordanschläge gegen jene, die sich mit Machtapparat anlegen, ist lang. Allen Fällen gemeinsam ist, dass sie nicht restlos aufgeklärt sind. Unabhängig davon, wer konkret die Schuld hat, ist in Russland die Meinung verbreitet, dass die Politik des Kreml ein Klima schafft, in dem solche schweren Verbrechen möglich sind. Eine Verfolgung müssen Auftraggeber nicht fürchten.

Nicht nur Putin angeklagt

Der charismatische und schlagfertige Nawalny ist aber nicht nur dem Kreml eine Last, weil er in der Lage ist, Massen zu mobilisieren und gegen Putin auf die Strasse zu bringen. Er hat ein Millionenpublikum im Internet. Und er setzt der Staatspropaganda, die Millionen ausgibt, um Putin im besten Licht zu zeigen, mit seinen wöchentlichen Sendungen etwas entgegen, das es im Fernsehen in Russland nicht zu sehen gibt.

Immer wieder enthüllt er korrupte Machenschaften von Regierungsmitgliedern. Und auch die mit dem Kreml verbandelten Oligarchen fühlen sich bisweilen von ihm schmerzlich vorgeführt – allen voran der als «Putins Koch» bekannte Jewgeni Prigoschin. Der 59-Jährige, der etwa lukrative Aufträge für die Schul- und Kitaspeisung in Russland erhält, lässt mit seinen Klagen vor Gericht gegen Nawalny seit langem keinen Zweifel daran aufkommen, dass er dem Politiker ernsthaft schaden will.

Die russische Politologin Tatjana Stanowaja von der Denkfabrik Moskauer Carnegie Center sieht im Grunde zwei Lager, die an einer Ausschaltung Nawalnys Interesse haben könnten: zum einen die Protagonisten seiner Enthüllungen über Korruption in den Machtstrukturen; zum anderen die freiwilligen Unterstützer Putins, die sich selbst berufen sehen, alles für eine Stabilität des bestehenden Systems zu tun.



«Die Version, dass Putin persönlich angeordnet hat, das 'Problem Nawalny' zu lösen, ist fragwürdig», schrieb sie in ihrer Analyse. Stanowaja sieht viel mehr das Machtsystem in einer Krise. Jemand wie Nawalny werde dabei wie ein «Krebsgeschwür» empfunden, das sich ausbreite und alles zerstöre. Es gibt aus ihrer Sicht starke Kräfte, die dem Inlandsgeheimdienst keinen echten Schutz des Status quo zutrauten. Sie nähmen dann selbst die Dinge in die Hand.

«Kein Mensch, kein Problem»

«Nawalny könnte von jemandem vergiftet worden sein, der es für nötig hielt, sich einzumischen, weil der Apparat tatenlos ist», meinte Stanowaja. Der Kreml selbst tue indes so, als ob nichts Besonderes passiert sei. Putin mache die Lage für Nawalny umso gefährlicher, je mehr er ihn ignoriere – nach der Devise: «Kein Mensch, kein Problem.» So werde jemand wie Nawalny Ziel von Anschlägen.

Immer wieder weisen Experten darauf hin, dass der Kreml den Gegner Putins nie namentlich nenne. Es gilt freilich als einfaches Kreml-Handwerk, den Gegner nicht noch durch Namensnennung aufzuwerten. Kremlsprecher Peskow meinte dazu nur lapidar: «Er ist ein Patient und krank. So nennen wir ihn.» Und verband damit die besten Wünschen für eine baldige Genesung. Nawalnys Namen mied er wieder.

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