Cholinesterase-Hemmer So gefährlich ist das mutmassliche Nawalny-Gift

dpa/tafi

25.8.2020

Die konkrete Substanz sei noch nicht bekannt, die ersten  Untersuchungen deuteten aber auf eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer hin, mit der Alexej Nawalny vergiftet wurde, teilte die Berliner Charité mit.
Die konkrete Substanz sei noch nicht bekannt, die ersten Untersuchungen deuteten aber auf eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer hin, mit der Alexej Nawalny vergiftet wurde, teilte die Berliner Charité mit.
AP Photo/Elena Ignatyeva

Der Kremlkritiker Alexej Nawalny wird vermutlich mit einer Substanz vergiftet, die auch in Chemiewaffen zum Einsatz kommt. Das Gift blockiert das Nervensystem und kann Langzeitfolgen zeitigen. 

Der Kremlkritiker Alexej Nawalny wurde Ärzten des Berliner Universitätsspitals Charité zufolge vermutlich mit einer Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer vergiftet. Um welchen Stoff es sich handelt, ist noch unklar. Am Dienstag wollte sich die Charité nicht zu dem Fall äussern. Nawalny wird seit Samstag in Berlin behandelt und liegt im Koma.

Gifte aus der Gruppe der Cholinesterase-Hemmer können Experten zufolge Langzeitschäden zur Folge haben. «Es kann zu Gedächtnisstörungen oder auch zu Einschränkungen im Sprachvermögen kommen», sagte der Charité-Professor und ehemalige Leiter des Instituts für klinische Pharmakologie und Toxikologe, Ralf Stahlmann am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur. Ausserdem seien psychische Folgen wie Depressionen möglich.



«Der Schock durch die Vergiftung und das tagelange Koma gehen nicht spurlos an einem vorbei», so der Experte. «Bei den Langzeitsymptomen kommt es auf die konkrete Substanz und die Dosierung an», betont Stahlmann.

Gift aus der Nowitschok-Familie

Zu der Gruppe der Cholinesterase-Hemmer zählen eine Reihe von Verbindungen. «Sie werden als Medikamente, etwa in der Alzheimer-Therapie, aber auch als Insektizide oder als chemische Kampfstoffe aus der Gruppe der organischen Phosphorverbindungen verwendet, wie Sarin, Tabun, VX oder Nowitschok», erklärt Florian Eyer, Professor und klinische Toxikologe am Universitätsklinikum rechts der Isar der Technischen Universität München.

Das Mittel Nowitschok geriet 2018 in die Schlagzeilen, als der russische Ex-Doppelagent Sergej Skripal und dessen Tochter Julia damit vergiftet wurden. Beide überlebten. Moskau hat eine Verantwortung stets zurückgewiesen.



Die Gifte hemmen im Körper unter anderem das Enzym Acetylcholinesterase, das den Botenstoff Acetylcholin spaltet und damit abbaut. Dieser wichtige Neurotransmitter ist unter anderem dafür verantwortlich, einen elektrischen Impuls vom Nerv zum Muskel zu übertragen. Ist die Funktion des Enzyms Acetylcholinesterase blockiert, kommt es zur Ansammlung des Botenstoffes zwischen Nervenzellen und zur Überaktivierung von Teilen im Nervensystem, die unter anderem die Erholungsfunktionen im Körper steuern.

«Es kommt zu einer Verlangsamung des Herzschlags, der Blutdruck sinkt, es wird vermehrt Speichel und Sekret in den Bronchien gebildet, und man kann unkontrolliert Harn oder Stuhl verlieren.» Auch die Skelett- und Atemmuskulatur könne in ihrer Funktion stark beeinträchtigt werden, erklärt Eyer.

Langzeitfolgen möglich

Schwere Vergiftungen sind oft mit der Unfähigkeit verbunden, ungestört zu atmen und genügend Sauerstoff über die Lunge in das Blut aufzunehmen», so der Toxikologe. Dies könne bei verzögertem Therapiebeginn zu Langzeitfolgen, etwa im Gehirn, führen oder im schlimmsten Fall tödlich enden. «Wenn die Vergiftung aber rasch und effektiv behandelt wird, haben die Patienten auch gute Chancen, ohne relevante Folgeschäden zu überleben», so Eyer. Aber auch dies sei davon abhängig, welche Substanzklasse zu einer Vergiftung geführt hat.



«Der Körper kann das Enzym nach einer Vergiftung wieder neu herstellen oder aber die Funktion des gehemmten Enzyms wird reaktiviert – hierzu gibt es für manche Cholinesterase-Hemmer auch spezifische Medikamente. Die vollständige Erholung des Enzyms kann Tage oder sogar Wochen benötigen», erläutert Eyer.

Der Patient Alexej Nawalny wird laut Charité mit dem Gegenmittel Atropin behandelt. «Der Ausgang der Erkrankung bleibt unsicher und Spätfolgen, insbesondere im Bereich des Nervensystems, können zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden», teilte die Charité zu dem Fall am Montag mit.

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