Desertierte russische Soldaten Ein Schuss ins Bein war für Jewgeni der Ausweg

AP/tcar

13.4.2024

Ein russischer Soldat mit dem Spitznamen Sparrow bereitet Ende 2023 in seiner Wohnung in Astana, Kasachstan, Tee zu. Nachdem er zwangsrekrutiert wurde, lief er aus seiner Kaserne weg, weil er niemanden töten wollte. Jetzt wird er in Russland angeklagt. 
Ein russischer Soldat mit dem Spitznamen Sparrow bereitet Ende 2023 in seiner Wohnung in Astana, Kasachstan, Tee zu. Nachdem er zwangsrekrutiert wurde, lief er aus seiner Kaserne weg, weil er niemanden töten wollte. Jetzt wird er in Russland angeklagt. 
Bild: Uncredited/AP

Um dem Krieg in der Ukraine zu entgehen desertieren immer mehr russische Soldaten. Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AP berichten sechs von ihnen von ihrer Flucht vor den Kämpfen.

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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Tausende russische Soldaten desertieren im Krieg gegen die Ukraine.
  • Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AP berichten sechs von ihnen von ihrer Flucht vor den Kämpfen.
  • Allesamt werden sie in Russland strafrechtlich belangt, ihnen drohen Haftstrafen von zehn Jahren oder mehr.

Ein Schuss ins Bein war für Jewgeni der Ausweg: Der russische Soldat bat einen Kameraden, vorsichtig zu zielen und bloß nicht die Knochen zu treffen. Ein Stauschlauch lag bereit, um die Blutung zu stoppen. Die Verletzung ermögliche es Jewgeni, die Front im Krieg gegen die Ukraine hinter sich zu lassen.

«Ich scherze, dass ich mich selbst zur Welt gebracht habe», sagt Jewgeni, der seinen vollen Namen nicht nennen will. «Wenn eine Frau ein Kind zur Welt bringt, macht sie grosse Schmerzen durch und schenkt neues Leben. Ich habe mir selbst das Leben geschenkt, nachdem ich starke Schmerzen hatte.» Der Schmerz war es ihm wert, dem Krieg zu entkommen. Jetzt ist er einer von Tausenden desertierten russischen Soldaten.

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Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AP berichten sechs von ihnen von ihrer Flucht vor den Kämpfen. Allesamt werden sie in Russland strafrechtlich belangt, ihnen drohen Haftstrafen von zehn Jahren oder mehr. Sie warten auf eine Einladung aus dem Westen und einen Weg in die Freiheit, bislang vergeblich. Stattdessen sind die Ex-Soldaten jetzt fast alle untergetaucht, um einer Verfolgung zu entgehen.

«Ich habe das Richtige getan», sagt ein Deserteur, der sich mit dem Spitznamen Spatz vorstellt. Er sei zwangsrekrutiert worden, berichtet der Mann – und dann aus der Kaserne weggelaufen, weil er niemanden töten wollte. «Ich sitze lieber hier und leide ..., als dorthin zu gehen und einen Menschen wegen irgendeines unüberschaubaren Krieges zu töten, der zu 100 Prozent Russlands Schuld ist», erklärt er.

Immer mehr Deserteure

Seit September 2022 hat das unabhängige russische Medienprojekt Mediazona mehr als 7300 Fälle vor Gericht dokumentiert, bei denen es um unerlaubtes Entfernen von der Truppe geht. Beim härtesten Vorwurf, der Desertation, hat sich die Zahl der Fälle im vergangenen Jahr versechsfacht.

Eine Rekordzahl von Soldaten, die auf der Suche nach einem Ausweg sind, meldet auch Idite Lesom, eine russische Aktivistengruppe in der ehemaligen Sowjetrepublik Georgien: Mehr als 500 Hilferufe von Desertationswilligen habe sie allein in den ersten beiden Monaten dieses Jahres bekommen. Unter allen Anfragen seien noch im vergangenen Frühjahr nur drei Prozent von Soldaten gekommen, die dem Kriegsdienst entkommen wollten, erklärt der Leiter der Gruppe, Grigori Swerdlin. In diesem Januar habe sich der Anteil auf ein Drittel erhöht.

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«Ganz offensichtlich versucht die russische Propaganda, uns die Geschichte zu verkaufen, dass ganz Russland Putin und seinen Krieg unterstützt», sagt Swerdlin. «Aber das ist nicht wahr.» Mehr als 500 Soldaten habe seine Gruppe bislang bei der Flucht geholfen.

Doch danach beginnt für die Männer das Verstecken. «Sei leiser als Wasser und niedriger als Gras», so laute die Devise, sagt Farhad Siganschin, der kurz nach dem Mobilisierungsdekret vom September 2022 die Flucht ergriff. Er wurde in Kasachstan gestoppt, als er versuchte, einen Flug nach Armenien zu nehmen. «Ich versuche jetzt einfach, ein normales Leben zu führen, ohne gegen die kasachischen Gesetze zu verstossen, ohne zu sehr aufzufallen, ohne irgendwo aufzutauchen», sagt Siganschin. Er wartet auf seinen Asylantrag.

Zahl der Zufluchtssuchenden wächst

Auch wenn westliche Länder russischen Kriegsverweigerern Asyl in Aussicht stellen, so erweist es sich für Deserteure in der Praxis doch schwierig, Zuflucht zu suchen. Die meisten haben einen Reisepass, der nur Reisen innerhalb einer Handvoll ehemaliger Sowjetstaaten erlaubt.

In den USA erhielten im Haushaltsjahr 2022 weniger als 300 Russen den Flüchtlingsstatus. Deutschland gewährte in weniger als zehn Prozent von insgesamt 5246 im vergangenen Jahr bearbeiteten Anträgen Schutz.

Die Zahl der Zufluchtssuchenden wächst indes weiter. Im Haushaltsjahr 2023 meldeten die US-Grenzbehörden mehr als 57 000 Russen, 2021 waren es 13 000. Auch die Zahl der Asylanträge in den USA stieg sprunghaft an.

«Sie wollten mich zwingen»

Ebenso in Frankreich: Dort nahmen die Anträge von 2022 auf 2023 um mehr als 50 Prozent zu. In Deutschland wurden im vergangenen Jahr nach Angaben des Bundesinnenministeriums 7663 Erstanträge auf Asyl von russischen Staatsbürgern gestellt, gegenüber 2851 im Jahr 2022. Wie viele Soldaten darunter waren, ist aus den Daten nicht ersichtlich.

Zu den geflohenen Soldaten zählt auch ein Ex-Offizier, der nur seinen Spitznamen Sportmeister nennt. Er hat ein Videotagebuch seiner Flucht erstellt. Damit wollte er möglichst vielen offen seine Ablehnung des Krieges demonstrieren.

«Sie wollten mich zwingen, gegen das freie Volk der Ukraine zu kämpfen», sagt er in die Kamera. Seine Uniform stopft er auf der Aufnahme in zwei Müllsäcke und wirft sie in einen Container. Russland verlässt er mit nur einem kleinen Rucksack – in eine ungewisse Zukunft.