Rätselhaftes Oligarchen-Sterben Ein Schelm, wer dabei an Mord denkt

Philipp Dahm

30.4.2022

Was die hier besprochenen fünf Suizide erfolgreicher russischer Geschäftsmänner mit Wladimir Putin zu tun haben? Man weiss es nicht – womöglich nichts.
Was die hier besprochenen fünf Suizide erfolgreicher russischer Geschäftsmänner mit Wladimir Putin zu tun haben? Man weiss es nicht – womöglich nichts.
AP

Sie lieben ihre Frauen und Töchter – und ermorden angeblich dennoch erst sie, bevor sie sich selbst töten: Die Suizide mehrerer russischer Oligarchen werfen Fragen auf. Die Fälle sind teils völlig absurd.

P. Dahm

Sergej Protosenja

Leben: Sergej Protosenja absolviert die Universität Moskau und schliesst sie als Ingenieur ab. Im Laufe seiner beruflichen Karriere kümmert sich der 55-Jährige erst um die Finanzen bei der Öl-Firma Tarkosaleneftegaz, um sich dann der Buchhaltung beim Gas-Giganten Novatek anzunehmen. 1994 werden die Unternehmen zusammengelegt: Bei Novatek-Tarkosaleneftegaz steigt er zum stellvertretenden Vorsitzenden auf. Protosenja lebt mit seiner Familie in Frankreich und soll über ein Vermögen von 426 Millionen Franken verfügen.

Sterben: Am 19. April ruft der 22-jährige Sohn Fedor die Behörden, weil er die Familie in ihrem spanischen Ferienhaus in Lloret de Mar in Spanien nicht erreicht. Gegen 16 Uhr findet die Polizei dort drei Leichen: die der 18-jährigen Tochter Maria, die der 53-jährigen Ehefrau Natalia und die von Sergej Protosenja. Die Frauen sind ihren Hieb- und Stichwunden erlegen: Vor Ort werden eine Axt und ein Messer gefunden. Der Vater hat sich erhängt – oder er wurde erhängt.

Rätsel: Die Szene sieht oberflächlich aus wie ein Familiendrama. Demnach hätte Sergej Protosenja seine Tochter und seine Frau erstochen, bevor er sich selbst mit dem Strick das Laben nahm. Doch angeblich gibt es an der Leiche keine Blutspuren – und auch keine Fingerabdrücke an den Mordwaffen. Sohn Fedor glaubt denn auch nicht an die Suizid-These: «Mein Vater ist kein Mörder», sagt er der «Daily Mail». «Er hat meine Mutter und besonders meine Schwester Maria geliebt. Sie war seine Prinzessin. Er hätte ihnen nie etwas antun können.»

Wladislaw Awajew

Leben: Von Wladislaw Awajews Vita ist wenig bekannt. Der Vertraute von Wladimir Putin, der zeitweise auch für seine Administration gearbeitet haben soll, verbringt angeblich viele Jahre bei der Gazprom-Bank, wo er bis zum Firmen-Vize aufsteigt, bevor er das Kreditinstitut aus unbekannten Gründen verlässt. Seinen Reichtum soll er auch mit einer Baufirma erlangt haben, weiss die «Daily Mail».

Sterben: Als Awajews Tochter Anastasia ihre Familie nicht erreicht, fährt die 36-Jährige am 18. April in die millionenschwere Wohnung ihres Vaters in Moskau. Die Tür soll von innen verschlossen gewesen sein. Dort entdeckt sie den 51-Jährigen mit einer Waffe in der Hand, von denen es ganze 13 in der Luxuswohnung geben soll. Wladislaw wurde ebenso durch Kugeln getötet wie seine 47-jährige Frau Jelena und die erst 13 Jahre alte Tochter Maria.

Rätsel: Die Polizei untersucht den Fall, geht aber von einem Familiendrama aus. Demnach soll Wladislaw herausgefunden haben, seine Frau habe eine Affäre mit ihrem Chauffeur gehabt und das Paar habe sich wegen des Sorgerechts gestritten. Einer anderen Version zufolge sei sie gar im fünften Monat schwanger gewesen. «Ich habe drei Schüsse und Schreie gehört», sagt Nachbarin Kristina. «Eine Frau hat geschrien, dann wurden zwei weitere Schüsse abgegeben. Niemand hat mehr geschrien.» Ein anderer Nachbar wird so zitiert: «Er war ein Nerd. Er hatte keinen Grund, das zu tun. Er war reich und intelligent. Es ist undenkbar, dass ein Mann wie er töten könnte.»

Wassili Melnikow

Leben: Wassili Melnikow hat die Firma Medstom gegründet, die Medikamente vertreibt, aber angeblich durch die Sanktionen schwer zu leiden hat.

Sterben: Als das Kindermädchen am Morgen des 23. März in die Wohnung der Familie kommt, findet sie vier Leichen vor: Ehefrau Galina liegt erstochen in ihrem Bett, die vier und zehn Jahre alten Söhne wurden in ihrem Kinderzimmer getötet. «Es sieht so aus, als hätten sie gerade geschlafen», berichtet eine Quelle dem «Kommersant». Der Vater soll sich demnach im Badezimmer die Pulsadern durchtrennt haben.

Rätsel: «Die Polizeibeamten untersuchen auch alle Umstände des Verbrechens», versichert eine Behörden-Sprecherin. In der Wohnung, in die angeblich nicht eingebrochen worden ist, wurde zwar das Tat-Messer gefunden, doch Nachbarn können sich einfach nicht vorstellen, dass Melnikow seine Familie ermordet hat. «Das ist zu hundert Prozent ausgeschlossen. Denn dort gibt es eine Menge Liebe. Die Familie war sehr gut, sie haben sich nie gestritten», wird eine Frau zitiert. Ungewöhnlich sei gewesen, dass anders als sonst in der Nacht die Vorhänge der Wohnung zugezogen waren.

Mikhail Watford

Leben: Mikhail Watford wird am 31. Mai 1955 in der Ukraine als Sohn russischer Eltern geboren und macht sein Glück im Energiesektor. Der Geschäftsmann baut in seiner Heimat die Öl- und Gasförderung aus und häuft ein Vermögen von 25 bis 30 Millionen Franken an. Der dreifache Vater zieht mit seiner Familie Anfang 2000 nach Grossbritannien, wo er ins Immobiliengeschäft einsteigt.

Sterben: Watfords Leiche wird am 28. Februar in der Garage seines millionenschweren Anwesens in Virginia Water im englischen Surrey gefunden. Der 66-Jährige baumelt an einem Strick.

Rätsel: Der Kriegsausbruch soll Watford ziemlich mitgenommen haben. «Das Timing seines Todes und der Invasion in der Ukraine war sicherlich kein Zufall», spekuliert ein Freund der Familie in der «Sun». Ein anderer meint: «Sein Tod wirft Fragen auf. Nach all den anderen verdächtigen Todesfällen von Russen in Grossbritannien ist es nur natürlich, wenn es Spekulationen über sein Ableben gibt.»

Alexander Tjuljakow

Leben: Alexander Tjuljakow war ein hochrangiger Angestellter von Gazprom und Vertrauter Putins. Als stellvertretender Direktor der Finanzabteilung des Konzerns kontrolliert er die Finanzströme des Unternehmens.

Gazprom

Sterben: Der 61-Jährige wird am 25. Februar am Strick hängend in der Garage seines Hauses in seiner Villa im elitären Leninsky-Gazprom-Dorf von seiner Mitbewohnerin aufgefunden. Am Boden unter ihm lag angeblich ein Zettel.

Rätsel: Die Polizei sei bereits bei der Arbeit gewesen, als «die harten Kerle in drei Jeeps» ankamen, wie es die «Nowaja Gaseta» beschreibt. Es handelt sich bei ihnen um das Gazprom-Sicherheitspersonal, das demnach die Polizei des Feldes verwies und die Untersuchungen selbst in die Hand nahm. Was auf dem Zettel stand, der beim Todesopfer lag, wird nicht bekannt. Es kursieren Medienberichte, nach denen Tjuljakow am Vorabend zusammengeschlagen worden ist.