Syrische Flüchtlinge im LibanonEin Jahrzehnt der Entwurzelung
AP/toko
13.3.2021
Millionen Syrer sind seit Kriegsbeginn vor zehn Jahren vor den Kämpfen geflohen und in Flüchtlingslagern untergekommen. Was eine vorübergehende Notunterkunft sein sollte, wird für sie zum bitteren Dauerzustand. Ein Ende ist nicht abzusehen.
13.03.2021, 13:12
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Mohammed Sakaria lebt schon fast so lange in einem Plastikzelt, wie der Krieg in seiner Heimat andauert. Zusammen mit seiner Familie flüchtete der Syrer 2012 in die Bekaa-Ebene im Osten des Libanons und ging davon aus, dass es ein kurzer Aufenthalt werden würde. Seine Heimatstadt Homs stand unter Belagerung und war Ziel einer grausamen Offensive des syrischen Militärs. Sakaria brachte nicht einmal seinen Personalausweis mit über die Grenze.
Fast zehn Jahre später ist die Familie immer noch hier. Der 53-jährige Sakaria gehört zu Millionen Syrern, die auf absehbare Zeit wohl nicht in ihr Heimatland zurückkehren werden, obwohl sich ihre Lebensbedingungen im Ausland verschlechtern. Neben den Folgen seiner Vertreibung hat Sakaria jetzt auch mit der verheerenden Finanzkrise im Libanon zu kämpfen. «Wir sind in der Annahme hierhergekommen, dass wir bald wieder gehen würden», erzählt er, während er an einem kalten Tag vor seinem Zelt sitzt. Seine Kinder spielen in verschlissenen Hausschuhen ein Hüpfspiel.
Vor zehn Jahren im März 2011 begehrte die Bevölkerung Syriens gegen Präsident Baschar al-Assad auf. Die Proteste schlugen rasch in einen bewaffneten Aufstand um, den Assads Sicherheitsapparat brutal niederschlug: Syrien war im Bürgerkrieg. Fast eine halbe Million Menschen wurden getötet. Es kam zur grössten Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg.
Seit Kriegsbeginn wurden jedes Jahr schätzungsweise 2,4 Millionen Menschen inner- und ausserhalb Syriens vertrieben, wie die Norwegische Flüchtlingshilfe vor wenigen Tagen mitteilte. Hunderttausende Syrer können mit jedem Jahr, in dem der Konflikt andauert und sich die wirtschaftlichen Zustände verschlechtern, nicht nach Hause zurückkehren. Der Krieg hat das Land gespalten und zerstört. Fast eine Million Kinder wurden im Exil geboren.
5,6 Millionen Geflüchtete
Von den einst 23 Millionen Einwohnern leben fast 5,6 Millionen als Flüchtlinge in Nachbarländern und in Europa. Rund 6,5 Millionen sind Binnenflüchtlinge, die meisten von ihnen seit mehr als fünf Jahren. Der Libanon mit seinen etwa fünf Millionen Einwohnern beherbergt die meisten Flüchtlinge pro Kopf. Ihre Zahl wird auf etwa eine Million geschätzt. Die meisten von ihnen leben in provisorischen Zeltsiedlungen in der Bekaa-Ebene nahe der Grenze zu Syrien.
Sakaria müht sich hier um die Versorgung seiner weiter wachsenden Familie. Der frühere Pförtner bei einer Baufirma in Homs hat zwei Frauen und acht Kinder, von denen zwei im Libanon zur Welt kamen. Eines seiner Kinder war erst ein Jahr alt, als die Familie aus Syrien flüchtete.
Im Libanon Arbeit zu finden, fällt angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise schwer. Nachdem die Währung um mehr als 80 Prozent ihres Werts einbrach, schossen die Preise in die Höhe. Finanzielle Unterstützung ist rar und ungeregelt.
Sakaria versucht jetzt über die Runden zu kommen, indem er Gasflaschen für Heizgeräte an andere Flüchtlinge verkauft. Pro Kanister verdient er umgerechnet ein paar Cent. Doch in diesem Winter konnten sich seine Nachbarn in der Siedlung, in der etwa 200 syrische Flüchtlingsfamilien leben, kaum genug Gas leisten, um ihre Zelte zu heizen. «Das Leben hier ist teuer», sagte Sakaria. Das gelte selbst für Medikamente und ärztliche Leistungen.
Keine Schule für 750'000 syrische Jungen und Mädchen
Als seine Frau dringend am Auge operiert werden musste, liess Sakaria sie kurz zurück nach Syrien schleusen, um den Eingriff dort vornehmen zu lassen. Die Operation kostete in Syrien nur einen Bruchteil.
Ihm tue es sehr leid für seine Kinder, sagt Sakaria, die keine Erinnerungen an Syrien und ihr Zuhause in Homs hätten. Sie sind auch nie zur Schule gegangen und können nicht lesen und schreiben. Laut Unicef werden fast 750'000 syrische Jungen und Mädchen in Nachbarländern nicht beschult.
Viele Syrer können nicht in ihre Heimat zurückkehren, weil ihre Häuser bei den Kämpfen zerstört wurden oder weil sie Angst vor Vergeltung der Regierungstruppen oder einer Einberufung zum Wehrdienst haben. Sakaria klammert sich an die Hoffnung, eines Tages wieder in Homs leben zu können. «So Gott will, werden wir in unserem Land sterben», sagte er. «Jeder sollte in seinem eigenen Land sterben.»