Fischsterben in der Oder Ein ganzer Fluss erlebt den Weltuntergang

tafi

18.8.2022

Fischsterben an der Oder: Giftige Alge könnte die Ursache sein

Fischsterben an der Oder: Giftige Alge könnte die Ursache sein

Forscher des Berliner Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei haben eine giftige Algenart als Auslöser des massiven Fischsterbens in der Oder ins Spiel gebracht.

18.08.2022

Der Fluss stirbt einen grausamen Tod: Im deutsch-polnischen Grenzfluss Oder verenden massenhaft Fische. Die Ursachen der ökologischen Katastrophe sind unklar, die Auswirkungen auf die Natur heftig.

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Erinnerungen an eine der grössten Umweltkatastrophen Europas werden wach: 1986 verursachte ein Grossbrand bei der Basler Chemiefirma Sandoz ein beispielloses Fischsterben. Der Rhein wurde auf Jahre zu einer Kloake. Ähnliches passiert gerade in der Oder, einem grossen Strom, der durch Deutschland, Polen und Tschechien fliesst: Der Fluss stirbt gerade, in weiten Teilen ist er bereits tot.

Im polnischen und deutschen Teil der Oder verendeten seit Ende Juli Hunderte Tonnen Fische, Muscheln, Schnecken und andere Lebewesen. «Es scheint, dass alles, was Luft aus dem Wasser atmet, gestorben ist», beschreibt der Naturschützer Johannes Giebermann beim «Spiegel» das Ausmass. 

Anders als beim Sandoz-Unglück vor 36 Jahren ist die Ursache für den ökologischen Super-GAU nicht klar. Behörden, Wissenschaftler und Umweltverbände rätseln: Auch nach mehr als zwei Wochen wisse man noch nicht, was passiert sei, gibt Dietmar Woidke, Ministerpräsident des deutschen Bundeslandes Brandenburg zu. «Wir wissen nur, es muss etwas passiert sein.»

Unzählige tote Fische treiben im flachen Wasser des deutsch-polnischen Grenzflusses Oder. Das Fischsterben in der Oder beunruhigt die Menschen seit Wochen.
Unzählige tote Fische treiben im flachen Wasser des deutsch-polnischen Grenzflusses Oder. Das Fischsterben in der Oder beunruhigt die Menschen seit Wochen.
Patrick Pleul/dpa

Zu lange abgewartet

In Deutschland wurde das ungewöhnliche Fischsterben in der Oder zuerst am 9. August beobachtet. Schon deutlich früher war es in Polen aufgefallen: Polnische Behörden bekamen bereits zwischen 26. und 28. Juli erste Hinweise darauf, dass in dem Fluss massenweise verendete Fische treiben. Ihre Kollegen in Deutschland haben sie allerdings nicht informiert.

Die Wut auf die polnischen Behörden ist in Deutschland gross, dabei haben auch die deutschen Ämter nicht alles richtig gemacht. Messergebnisse in der deutsch-polnischen Grenzstadt Frankfurt/Oder zeigten seit 1. August Auffälligkeiten, die man «weiter beobachtet» habe. Unternommen aber wurde erstmal nichts.

Das hat sich mittlerweile geändert. Behörden und Labore arbeiten in Polen und Deutschland auf Hochtouren. Wasserproben wurden auf 300 Stoffe untersucht, giftige Substanzen bislang aber nicht gefunden. Die anfangs häufig vertretene Hypothese von einer Quecksilbervergiftung hat sich nicht bestätigen lassen.

Auffällig waren jedoch hohe pH- und Sauerstoffwerte. Auch die Salzkonzentration überstieg die Normalwerte um mehr als das Doppelte. Fachleute halten mittlerweile einen Mix aus mehreren Faktoren für die wahrscheinlichste Ursache: Hitze, geringer Wasserstand und Giftstoffe.

«Das ist die Apokalypse»

Die Oder ist insgesamt 866 Kilometer lang, 500 Kilometer Flusslauf sind vom Fischsterben betroffen. Ganze Ökosysteme drohen zu kollabieren, die komplette Lebensgemeinschaft im und am Fluss leidet: Die Fische sind Nahrung für Vögel und Fischotter. Wenn die Kadaver weggeräumt sind, bleibt ihnen nichts zu fressen. In Deutschland wurde bislang nach offiziellen Angeben 36 Tonnen verendete Fische gefunden, in Polen fast 100 Tonnen tote Fische geborgen.

«Das ist die Apokalypse», sagt der Naturschützer und Lokalpolitiker Christian Sahm im «Spiegel». Es könne 15 Jahre dauern, bis sich die Oder regeneriert hat. Hoffnung mache ihm nur, dass die verendeten Fische offenbar keine Giftstoffe enthalten: «Sonst hätten wir hier einen Totenteppich mit Tausenden Vögeln.»

Auf der Suche nach der Ursache für die rätselhafte Umweltkatastrophe haben Forschende nun eine giftige Algenart im Blick, die sich im Fluss rasant entwickelt hat. Mittlerweile sei die Mikroalge mit dem Namen Prymnesium parvum identifiziert worden, sagte der Gewässerökologe Christian Wolter.

Ob sie Giftstoffe produziert hat, müsse noch nachgewiesen werden, betonte der Wissenschaftler des Berliner Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei. Er sprach von einer massiven Algenblüte mit 200 Mikrogramm pro Liter und mehr als 100’000 Zellen pro Milliliter Wasser.

Umweltsünde wahrscheinlich

Im deutschen Bundesland Brandenburg geht man nach wie vor davon aus, dass das Fischsterben nicht nur natürliche Ursachen hat. «Das können wir getrost ausschliessen, sonst würden sich die hohen pH-Werte und der erhöhte Sauerstoffgehalt und vieles andere mehr nicht erklären», sagte Ministerpräsident Dietmar Woidke.

In Polen ermittelt man zu möglichen Ursachen für das Fischsterben nach den anfänglichen Versäumnissen nun intensiver. Die Regierung vermutet, dass der Fluss mit Chemie-Abfällen vergiftet wurde. «Es ist wahrscheinlich, dass eine riesige Menge an chemischen Abfällen in den Fluss gekippt wurde, und das in voller Kenntnis der Risiken und Folgen», sagte Regierungschef Morawiecki.

Die polnische Polizei hat eine Belohnung von umgerechnet mehr als 200'000 Franken für die Aufklärung ausgesetzt, die Staatsanwaltschaft bislang 228 Zeugen vernommen. Ermittler hätten zudem zwölf Ortsbesichtigungen an unterschiedlichen Flussabschnitten vorgenommen, sagte Vize-Generalstaatsanwalt Krzysztof Sierak. «Aus den bisherigen Aktivitäten geht nicht hervor, was die Ursache für das massive Fischsterben war.»

Mit Material der Nachrichtenagenturen Keystone-SDA und dpa.

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