Drohende Implosion Konflikt in Äthiopien spitzt sich drastisch zu 

Von Kristin Palitza, dpa

7.11.2021 - 20:35

Ein Protestteilnehmer mit einem Transparent, auf dem zu lesen ist «Amerikaner, kommt nicht zurück. Uns geht es besser ohne euch».
Ein Protestteilnehmer mit einem Transparent, auf dem zu lesen ist «Amerikaner, kommt nicht zurück. Uns geht es besser ohne euch».
dpa

Der Konflikt in Äthiopien verschärft sich dramatisch. Die Rebellen nähern sich der Hauptstadt. Die Regierung schwört, sie mit allen Mitteln zu bekämpfen.

Von Kristin Palitza, dpa

Afrikas zweitgrösstes Land Äthiopien droht zu implodieren. Der Konflikt zwischen der Regierung und Rebellen aus der nördlichen Region Tigray erfasst wachsende Teile des Landes.

Die Konfliktparteien liefern sich immer härtere Gefechte. Hunderttausende sind bereits der Gewalt geflohen; etwa 400'000 Menschen sind akut vom Hungertod bedroht. Die Zivilbevölkerung beider Seiten wünscht sich vor allem eins: eine Rückkehr zum Frieden.

Protest gegen TPLF

Hunderttausende zogen in von der Regierung organisierten Protesten in zahlreichen Städten des Landes friedlich durch die Strassen, um gegen die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) zu protestieren und der Armee ihre Unterstützung zu geloben. Die Regierung hatte vor einigen Tagen den Ausnahmezustand verhängt, der Ministerpräsident Abiy Ahmed eine Reihe von Sondervollmachten gibt. Zudem forderte er die Bevölkerung auf, gegen die Rebellen zu den Waffen zu greifen. Demonstranten riefen Slogans wie «Ich bin Schutzherr meines Landes» und «Die Junta (gemeint ist die TLPF) ist Äthiopiens Feind Nummer 1».

Der Druck auf Abiy wächst allerdings. Die TPLF steht nach eigenen Angaben weniger als 350 Kilometer vor der Hauptstadt. Am Freitag unterzeichneten neun äthiopische Oppositionsfraktionen in Washington ein Bündnis gegen Abiys Regierung. Man wolle den Ministerpräsidenten durch «Verhandlungen oder mit Gewalt» dazu bringen, eine Übergangsregierung zu bilden, hiess es. «Abiys Zeit läuft ab», sagte Berhane Gebrekristos, ein TPLF-Anführer und ehemaliger äthiopischer US-Botschafter (1992-2002). «Wir wollen dieser schrecklichen Situation in Äthiopien ein Ende setzen, die im Alleingang von der Regierung Abiys geschaffen wurde.»

Abiy hatte vor einem Jahr eine Militäroffensive gegen die TPLF begonnen, die bis dahin in der nördlichen Region Tigray an der Macht war. Die TPLF dominierte Äthiopien mit seinen rund 115 Millionen Einwohnern gut 25 Jahre lang, bis Abiy 2018 an die Macht kam und sie verdrängte. Führende Mitglieder der äthiopischen Armee kamen aus Tigray und liefen zur TPLF über, wodurch die Rebellen sehr schnell grosse Erfolge erzielen konnten. Die gut ausgebildeten Kämpfer der Rebellengruppe sind praktisch seit Juli auf dem Vormarsch.

Gegen «Einmischung»

Die von der Regierung organisierten Proteste richteten sich auch gegen die internationale Gemeinschaft. Auf Plakaten war zu lesen: «Wir brauchen keine Einmischung aus dem Ausland». Der UN-Sicherheitsrat hatte am Freitag ein Ende der Gewalt gefordert. Für diesen Montag hat der Sicherheitsrat nach dpa-Informationen aus diplomatischen Kreisen eine weitere Sitzung zu der Krise anberaumt. Das mächtigste UN-Gremium verlangt von den Konfliktparteien, einen Waffenstillstand auszuhandeln. «Auf hetzerische Hassreden und Aufstachelung zu Gewalt und Spaltung» müsse verzichtet werden. Am Sonntag appellierte auch Papst Franziskus an die Konfliktparteien zu einem Ende der Gewalt, «damit die brüderliche Eintracht und der friedliche Weg des Dialogs wieder einkehrt».

Hunderte von Flüchtlingen aus den Konfliktregionen Tigray, Amhara and Afar trafen am Wochenende in der Hauptstadt Addis Abeba ein. Eine davon, Misganaw Abera, berichtete der Deutschen Presse-Agentur, dass sie während des mehrwöchigen Fussmarsches brutale Gewalt und Vergewaltigungen gesehen habe. Nun hofft sie auf Sicherheit in der Hauptstadt – doch fürchtet sich vor den Regierungssoldaten. Viele der aus Tigray stammenden Menschen sind in vergangenen Tagen verhaftet und in Militärfahrzeugen aus der Stadt gefahren worden. Die Polizei bestätigte, dass es eine «Aufräumaktion» gegeben habe.

Die Rebellen konnten sich inzwischen Zugang zu einer der wichtigsten Autobahnen im Land verschaffen und haben nach einigen Angaben die strategisch wichtigen Städte Dessie und Kobolcha unter ihre Kontrolle gebracht. Berichten zufolge sollen die Milizen auch versuchen, die wichtige Versorgungsroute vom Hafen im Nachbarland Dschibuti nach Addis Abeba zu kappen.

Die US-Botschaft in Addis Abeba zog US-Regierungsangestellte und ihre Familienangehörigen ab und riet US-Bürgern, das Land schnellstmöglich zu verlassen. Israels Aussenministerium bestätigte am Sonntag, man habe angesichts der angespannten Lage mit der Evakuierung von Familien israelischer Diplomaten in Äthiopien begonnen.