Abnützungskampf am Dnipro Ukrainischer Soldat berichtet von der «Hölle» an der Front

gbi

9.12.2023

Ukrainische Truppen erreichen mit Booten ihre Stellungen am Dnipro nahe Cherson.
Ukrainische Truppen erreichen mit Booten ihre Stellungen am Dnipro nahe Cherson.
Bild: AP Photo/Mstyslav Chernov

Sie stehen unter Dauerbeschuss, haben mit Nachschub-Engpässen zu kämpfen, kennen ihre Ziele nicht: Ein ukrainischer Soldat bezeichnet die Front am Fluss Dnipro als «Hölle». Und kritisiert die ukrainische Führung.

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  • Am Fluss Dnipro in der ukrainischen Region Cherson liefern sich Ukrainer und Russen einen erbitterten Stellungskampf.
  • Ein ukrainischer Soldat berichtet der BBC jetzt von prekären Zuständen an der Front. 
  • Er kritisiert auch den mangelnden Rückhalt für die Einheiten am Dnipro: «Niemand kennt die Ziele. Viele glauben, dass das Kommando uns einfach im Stich gelassen hat.»

Die Frontlinie am Fluss Dnipro in der Region Cherson gehört zu den am härtesten umkämpften in der Ukraine: Hunderte ukrainische Soldaten hatten es vor sechs Monaten geschafft, ans östliche Ufer vorzurücken – es war einer der nennenswertesten Erfolge der ukrainischen Gegenoffensive.

Seither harren die Männer am Dnipro – den die Russen Dnjepr nennen – unter widrigsten Bedingungen aus: Sie sind dem Feind zahlenmässig unterlegen, stehen unter Dauerbeschuss und fühlen sich von Kiew im Stich gelassen. Das berichtet ein ukrainischer Soldat der britischen BBC.

Seine Schilderungen, die er via einer Messaging-App machte, werfen ein Schlaglicht auf wachsende Spannungen innerhalb der ukrainischen Truppen, die vor ihrem dritten Jahr im Krieg stehen.

«Wir dachten, der Feind würde fliehen»

Die Region sei unter ständigem Beschuss. «Ich habe gesehen, wie Boote mit meinen Kameraden an Bord nach einem Treffer einfach im Wasser verschwanden und für immer im Dnipro verloren gingen», berichtet der Soldat, dessen Identität zu seinem Schutz geheim gehalten wird.

Der Vorstoss sei ganz anders verlaufen, als erhofft: «Wir dachten, wenn wir es bis dorthin geschafft haben, würde der Feind fliehen und wir könnten in aller Ruhe alles transportieren, was wir brauchten», berichtet der Soldat. «Aber das war nicht der Fall.»

Als die ukrainischen Truppen das Ostufer erreicht hätten, hätten die Russen sie bereits erwartet – und genau gewusst, wo sich die Ukrainer aufhielten. «Sie haben uns mit allem angegriffen, was sie haben: Artillerie, Mörser und Flammenwerfer. Ich dachte, ich käme da nie wieder raus.»

Dank Schützenhilfe anderer ukrainischer Truppen, die erhöht am Westufer des Dnipro stationiert waren, hätten sie es dennoch geschafft, sich einzugraben. Doch die Probleme hörten damit nicht auf: Um einen Brückenkopf zu errichten, brauche es viel Material – «doch Nachschub in diese Gegend war nie geplant», kritisiert der Soldat. Die Männer müssten daher alles mit sich schleppen, von Generatoren über Treibstoff bis zu den Nahrungsmittelvorräten.

Zweifel an Selenskyjs Darstellung

Präsident Wolodymyr Selenskyj und die ukrainische Militärführung preisen den Vorstoss ans Ostufer des Dnipro als Erfolg, auf den aufgebaut werden könne. Von einer Pattsituation sprechen sie nicht. Doch der Soldat äussert bei der BBC Zweifel an dieser positiven Darstellung.

Wachsende Kriegsmüdigkeit in der Ukraine

Wachsende Kriegsmüdigkeit in der Ukraine

Diese Frauen, die hier in der ukrainischen Hauptstadt Kiew demonstrieren, wollen, dass ihre Männer aus dem Krieg nach Hause kommen. So auch die 43-jährige Antonina Danylewytsch. Ihr Ehemann hatte sich im März 2022 kurz nach Kriegsbeginn freiwillig gemeldet. Seitdem hatte er gerade einmal 25 Tage Heimaturlaub. Die beiden Kinder wachsen ohne Vater auf. Und ein Ende des Krieges ist nicht abzusehen.

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Das habe schon mit dem Vorstoss begonnen: «Jeden Tag sassen wir im Wald und wurden beschossen. Wir sassen in der Falle, die Strassen und Wege sind alle vermint.» Die Russen könnten zwar nicht alles kontrollieren, das gebe ihnen einen gewissen Spielraum. «Aber ihre Drohnen schwirren ständig durch die Luft, bereit zuzuschlagen, sobald sie eine Bewegung erkennen.»

Als Achillesferse hätten sich die Nachschubwege erwiesen, weshalb Trinkwasser knapp geworden sei. Normalerweise würde dieses mittels Drohnen oder Booten geliefert.

Von Kiew vergessen?

Die Truppen am Dnipro fühlen sich laut dem Soldaten vergessen: «Niemand kennt die Ziele. Viele glauben, dass das Kommando uns einfach im Stich gelassen hat. Die Jungs glauben, dass unsere Anwesenheit mehr politische als militärische Bedeutung hat. Aber wir haben nur unseren Job gemacht und uns nicht in die Strategie eingemischt.»

Die ukrainische Führung hingegen hält daran fest, dass die russischen Truppen dank dieser Offensive so weit zurückgedrängt werden könnten, dass sie ihre Nachschubrouten vernachlässigen müssten. Tatsächlich berichteten auch russische Soldaten in jenem Gebiet der BBC kürzlich von schweren Verlusten auf ihrer Seite. Sie sprachen von «Selbstmord» für jene, die ans Dnipro-Ufer geschickt würden.

Der Stellungskampf am Grenzfluss zwischen ukrainisch und russisch gehaltenem Territorium hat sich längst zum Abnützungskampf entwickelt. Auch der ukrainische Soldat bereitet sich auf eine Rückkehr ins Gefecht vor, nachdem er eine Verletzung auskuriert hat: Er habe eine Hirnerschütterung erlitten, als eine Mine explodiert sei.

Das habe sich angefühlt, als sei er «der Hölle entkommen». Einer seiner Kameraden hatte weniger Glück – er starb. «Das Einzige, was von ihm übrig blieb, war sein Helm.»