Russland rückt im Donbass vor«Dieser Ansatz ähnelt dem Ersten Weltkrieg»
Von Andreas Fischer
24.6.2022
Ukraine ordnet Rückzug ihrer Truppen aus Sjewjerodonezk an
Nach wochenlangem erbittertem Widerstand gegen die russischen Truppen muss sich die ukrainische Armee aus der strategisch wichtigen Stadt Sjewjerodonezk im Donbass zurückziehen. Die russischen Soldaten hatten die Stadt zuletzt fast komplett eingen
24.06.2022
Putin steht nach dem Rückzug der ukrainischen Armee aus Sjewjerodonezk vor der Eroberung der Region Luhansk. Für Militärexperte Niklas Masuhr hat Russland den Krieg aber noch lange nicht gewonnen.
Von Andreas Fischer
24.06.2022, 18:03
24.06.2022, 21:48
Von Andreas Fischer
Am 24. Juni ist Russlands Überfall auf die Ukraine genau vier Monate her – und ausgerechnet an diesem Tag muss sich die ukrainische Armee im Osten des Landes in der Grossstadt Sjewjerodonezk geschlagen geben. Es mache keinen Sinn mehr, in zerschlagenen Stellungen auszuharren, sagte Serhij Hajdaj, Gouverneur des Oblast Luhansk.
Dass die ukrainischen Verteidiger das Kommando zum Rückzug erhalten haben, war absehbar, schätzt Militärexperte Niklas Masuhr von der ETH Zürich im Interview mit blue News ein und erklärt, warum die Ukraine trotz eines militärischen Rückschlages den Krieg noch nicht verloren hat.
Zur Person
zvg
Niklas Masuhr ist Sicherheitsforscher am Center for Security Studies der ETH Zürich.
Wie stark schmerzt der Verlust von Sjewjerodonezk und Lyssytschansk?
Das lässt sich nicht genau quantifizieren. Es gibt aber einige Parameter, um die Folgen einzuordnen. Zum einen wäre das der Punkt, wie es die Ukraine schafft, die nächste Verteidigungslinie zu bilden und wie stark sie ist. Gleichzeitig hängt es jetzt beispielsweise davon ab, wie schnell und wie viele Truppen man unter russischem Feuer in Sicherheit bringen kann und ob es zwischen Lyssytschansk und Kramatorsk bereits vorbereitete Stellungen gibt.
Ich will gar nicht herunterspielen, dass die Aufgabe der Stadt ein Verlust für die Ukraine ist. Aber da es absehbar war, dass Sjewjerodonezk fallen würde, halte ich es für übertrieben zu sagen, dass Russland nun den Krieg gewonnen hätte oder dies ein entscheidender Durchbruch wäre, wie es in den vergangenen Tagen und Wochen von verschiedenen Seiten behauptet wurde. Das ist aus meiner Sicht klar falsch. Dafür haben wir auch einfach zu wenige Informationen.
Wir wissen, die Ukraine hat schwere Verluste erlitten, die nicht länger zu ertragen waren. Es war auch klar, dass die Ukraine das nicht auf unbegrenzte Zeit durchhalten konnte. Irgendwann musste die Front zusammenbrechen oder es zu einer Einkreisung kommen. Dass sich die Ukraine nun zurückzieht, war tendenziell eine Frage der Zeit.
Welche Bedeutung haben Sjewjerodonezk und die Zwillingsstadt Lyssytschansk militärisch? Wieso ging Russland dort so vehement vor?
Die Bedeutung kommt daher, dass der Fluss Siwerskyj Donez eine natürliche Verteidigungslinie bildet und dass es eine Stellung der Ukraine war, die verhältnismässig weit im Osten liegt. Für Russland ist die Stadt wichtig, um sich für weitere Offensiven in Stellung bringen. Sie spielt also schon eine gewisse strategische Rolle, die vor allem in der Dynamik des Krieges begründet liegt.
Die Schlacht in Sjewjerodonezk war sehr verlustreich: Man gewinnt den Eindruck, es sei Moskau relativ egal, Männer und Material zu verlieren. Ist das so?
Aus normativer Sicht ist es dem Kreml wahrscheinlich unwichtig, wie viel Personal verloren wird.
Rechnen sich solche verlustreichen Militäraktionen für Putin?
Wenn das militärische Werkzeug durch grosse Verluste stumpfer wird, dann ist das kein Vorteil. Der Kreml hat nur eine bestimmte Verfügungsmasse, und diese ist nur in gewissen Zuständen nutzbar. Das ist auch der Grund, warum Russland im Moment einen Artillerie-zentrischen Ansatz fährt. Zuvor waren die Verluste massiv.
Tritt der Krieg jetzt in eine neue Phase?
Ja, mittlerweile bahnt sich die dritte Phase dieses Krieges an. In der ersten Phase ging es Russland in einem Manöverkrieg um die Einnahme von Kiew und Gebieten im Süden. In der jetzigen Phase verlässt sich das russische Militär vor allem auf die Artillerie und rückt langsam vor. Die militärischen Ziele sind derweil nicht mehr so ambitioniert wie zu Beginn dieser Phase, als Russland versuchte, die gesamten ukrainischen Truppen abzuschneiden.
In der dritten Phase könnten jetzt ukrainische Verteidigungslinien den ganzen Sommer über unter Beschuss geraten. Es ist möglich, dass die russische Seite versucht, sich in dieser Zeit zu konsolidieren, um dann in einigen Monaten neue Offensiven zu starten – wenn sich vielleicht auch die politische Situation im Westen verändert hat. Darauf scheint Russland zu spekulieren.
Was kann die Ukraine nach dem Rückzug aus neuen Stellungen militärisch erreichen?
Die Frage ist, inwieweit man auf russischer Seite mit der Einnahme von Sjewjerodonezk versuchen wird, weiter vorzurücken. Aus den bisherigen Erfahrungen spricht allerdings nicht allzu viel für eine sofortige Offensive: Russland war bislang nicht effektiv bei Operationen, die in die Tiefe des ukrainischen Raums führen. Das könnte allerdings anders aussehen, wenn sich die Ukrainer auf verhältnismässig breiter Front zurückziehen.
Für diese hypothetische dritte Phase ist auch relevant, was jetzt in Cherson passiert. Sollte es der Ukraine gelingen, eine Gegenoffensive zu führen, die den russischen Brückenkopf reduziert, sähe die dritte Phase des Krieges wahrscheinlich anders aus: Wer Cherson hält, hat einen Vorteil. Die Ukraine könnte Vorstösse der Russen auf ihr Territorium verhindern, die wiederum könnten vor dort aus in Richtung Norden oder Nordwesten vorrücken.
Nach dem ukrainischen Rückzug im Donbass sind Slowjansk und Kramatorsk die nächsten Ziele für Russland: Warum sind diese beiden Städte wichtiger als Sjewjerodonezk und Lyssytschansk?
Sie sind grösser und sie liegen weiter im Westen: Russland geht es möglicherweise nach wie vor darum, möglichst tief in die Ukraine vorzudringen. Allerdings stellt sich die Frage, in welchem Zustand die russische Armee ist und inwieweit sie das Vorgehen in Sjewjerodonezk auf eine grössere Operation hochskalieren kann. Die Russen haben trotz hoher ukrainischer Verluste den Krieg noch nicht gewonnen, nur weil sie bewiesen haben, auf 20 Quadratkilometern Artillerie einsetzen zu können.
Vor der neuen Stellung gibt es keinen Fluss wie in Sjewjerodonezk. Kann die ukrainische Armee die Stellung trotzdem halten?
Im Prinzip schon, aber man muss beachten, dass die Ukraine in der Schlacht um Sjewjerodonezk durch die Verluste auch viel Erfahrung verloren hat. Sie könnten natürlich versuchen, die Russen in einen Häuserkampf zu verwickeln.
Welche Chance hat die Ukraine überhaupt noch?
Es ist vor allem relevant, was die Russen noch können und sich zutrauen. Wenn sie es geschafft haben, die teilweise aufgeriebenen Verbände aus den ersten Kriegswochen zu regenerieren, dann könnten sie durchaus das Potenzial für begrenzte Offensiven haben. Wobei dann immer noch die Infanterie fehlt, um weit in die Ukraine vorzustossen, was russische Verluste wie in der ersten Phase wahrscheinlich machen würde.
Also muss sich die Ukraine weiterhin auf grimmige Bombardements einstellen?
Ja, das ist möglicherweise im Moment das Einzige, was die Russen noch können. Und es scheint ja auch zu funktionieren. Wenn im Herbst die politische Situation im Westen für die Ukraine nachteiliger ist, worauf die Russen wie gesagt zu spekulieren scheinen, dann geht die Strategie möglicherweise auf, die Ukrainer in Abnutzungsgefechte zu verwickeln.
Das heisst, die Städte werden plattgebombt? Den Angaben des Gouverneurs der Oblast Luhansk zufolge sind in Sjewjerodonezk mittlerweile bis zu 90 Prozent der Häuser zerstört.
Ja. Das ist Grosny, das ist Aleppo. Das ist jetzt etwas polemisiert und vereinfacht: Aber letztendlich ähnelt dieser Ansatz dem Ersten Weltkrieg. Im Vergleich zum Beginn des Krieges steht die russische Armee organisatorisch und taktisch zwar verbessert da. Zum Beispiel funktioniert die Luftwaffe mittlerweile besser. Dennoch bezweifle ich, dass Russland rein militärisch in der Lage ist, den Sieg in Sjewjerodonezk zu kapitalisieren.
Wie entwickelt sich das Kräfteverhältnis nun im Donbass und dem Rest der Ukraine?
Das ist schwer zu sagen. Es gibt einerseits absolute Zahlen, von Verlusten etwa. Was sie für die Kriegsparteien bedeuten, ist aber eine ganz andere Sache. Sie sagen nicht unbedingt etwas über die Kampffähigkeit aus.
Haben es die Ukrainer zum Beispiel geschafft, genügend erfahrene Kader zu retten, die jetzt neu eingegliedert werden können? Gibt es genügend Truppen, die an westlichen Geräten trainiert werden können? Auf russischen Kanälen geistern seit Wochen Gerüchte von ukrainischen Panzerbrigaden herum, die hinter der Frontlinie neu organisiert werden.
Aus meiner Sicht ist es unseriös, aufgrund der aktuellen militärischen Lage in die eine oder andere Richtung zu behaupten, Russland ist gerade dabei, den Krieg zu gewinnen oder zu verlieren – was nicht bedeutet, dass die russische Position nicht auch politisch klar verbessert ist.
Die westlichen Waffensysteme treffen nur langsam in der Ukraine ein – noch rechtzeitig genug, um die Eroberung des gesamten Donbass zu verhindern?
Die Waffensysteme sind natürlich relevant, wenn sich neue Frontlinien bilden. Aufgrund der militärischen Situation ist davon auszugehen, dass es auch ein zweites Sjewjerodonezk geben wird und auch ein drittes, solange es nicht zu Waffenstillständen kommt. Deshalb halte ich es für falsch, die Frage der Waffenlieferungen an der erwarteten Timeline dieser Schlacht festzumachen. Der Punkt ist: Solange der Westen die Ukraine unterstützt, ist davon auszugehen, dass sie sich verteidigen kann.
Dennoch wird es für Kiew natürlich gefährlich, wenn Russland einseitige Waffenstillstände ausruft und westliche Partner die Ukraine dazu drängen, diese anzunehmen. Wie gesagt, Moskau scheint aktuell auf abnehmende Unterstützung oder zumindest kontroversere Debatten im Westen zu hoffen.
Dass Putin den Donbass erobern will, liegt auf der Hand. Wie wichtig sind für ihn andere Oblaste?
Dass es Putin nur noch um den Donbass gehe, wie manche behaupten, mag in der aktuellen militärischen Phase stimmen. Wir haben bisher allerdings noch nichts gesehen, was darauf hindeutet, dass Russland sein politisches Ambitionsniveau gesenkt hätte. Es geht meines Erachtens nach wie vor darum, die Ukraine als politische Realität zu zerstören – selbst wenn es mittelfristig beispielsweise zu Feuerpausen kommt.