Nahrung als «stille Waffe»Die Ukraine hat Getreide, wird es aber nicht los
uri
14.5.2022
Baerbock will Russlands «Getreide-Blockade» durchbrechen
Baerbock will Russlands «Getreide-Blockade» durchbrechen
12.05.2022
Die Ukraine zählt zu den wichtigsten Getreidelieferanten der Welt. Trotz des Kriegs ist die «Kornkammer Europas» noch gut gefüllt. Allerdings kommt das wichtige Gut nicht aus dem Land. Die EU will das jetzt ändern.
uri
14.05.2022, 00:00
14.05.2022, 11:32
uri
Noch im letzten Jahr war die Ukraine weltweit fünftgrösster Exporteur von Weizen mit einem Marktanteil von 10 Prozent. Bei der Gerste und beim Mais lag das Land sogar an dritter Stelle. Damit versorgte die Ukraine rund 400 Millionen Menschen mit Getreide. Etliche Länder vor allem in Afrika sind auf ukrainische Lieferungen angewiesen, denn sie importieren von hier aus mehr als die Hälfte ihres Bedarfs. Verschärft wird die Situation zudem in Ostafrika und der Sahelzone durch die schlimmste Dürre seit 40 Jahren.
Kriegsbedingt dürfte die Menge an Getreide und Ölsaaten nach einer Rekordernte im Jahr 2021 von 106 Millionen Tonnen um rund ein Drittel auf 63 Millionen Tonnen zurückgehen, wie der Ukrainische Getreideverband (UZA) mitteilte. Beim Mais könnte der Rückgang sogar noch höher ausfallen. Doch diese Probleme verweisen noch in die Zukunft – wenn auch in eine nahe.
Globale Antwort für gestrandetes Getreide
Aktuell liegen die Schwierigkeiten nämlich an anderer Stelle: In den Lagern der ukrainischen Schwarzmeerhäfen befindet sich nämlich jede Menge Getreide. Dieses kommt allerdings nicht aus dem Land, weil fast alle ukrainischen Häfen am Schwarzen Meer durch Russland erobert oder zerstört wurden. Im Schwarzen Meer selbst machen ausgelegte Treibminen – für die sich Moskau und Kiew gegenseitig verantwortlich machen – und die russische Schwarzmeerflotte die Schifffahrt zu einer riskanten Angelegenheit.
Erst Anfang der Woche twitterte denn auch EU-Ratspräsident Charles Michel nach seinem Besuch im letzten Hafen der Ukraine in Odessa: «Ich sah Silos voller Getreide, Weizen und Mais, bereit für den Export.» Allerdings konstatierte Michel, die dringend benötigten Lebensmittel seien hier gestrandet und forderte: «Wir brauchen eine globale Antwort.»
In the port of #Odesa with @Denys_Shmyhal, I saw silos full of grain, wheat and corn ready for export. This badly needed food is stranded because of the Russian war and blockade of Black sea ports. Causing dramatic consequences for vulnerable countries. We need a global response. pic.twitter.com/k8dz03d2Cj
Eine solche kam Donnerstag von den führenden demokratischen Industrienationen. Die G7- Aussenminister kündigten im deutschen Weissenhaus an, man wolle sicherstellen, dass die Ukraine ein bedeutender Getreideexporteur bleibe. Auch berate man darüber, wie die derzeit von Russland ausgeübte Blockade aufgelöst werden könne, um ukrainisches Getreide wieder in die Welt zu bringen, wie Gastgeberin Annalena Baerbock sagte.
EU will Getreide auf anderen Wegen aus der Ukraine bringen
Derzeit seien 25 Millionen Tonnen Getreide in ukrainischen Häfen blockiert, insbesondere in Odessa, das dringend gebraucht werde, führte Baerbock aus und warnte, am Himmel braue sich eine Ernährungskrise zusammen. Diese werde durch globale Klimaauswirkungen nur noch verschärft.
Passend dazu stellte auch die EU-Kommission ihren Plan vor, wie mit der russischen Blockade ukrainischer Getreideexporte umgangen werden soll. Vordringlich sei nun die Schaffung «alternativer Logistikrouten», teilte die Behörde mit. Die Lebensmittel sollen demnach künftig verstärkt per Bahn, Lkw und über Wasserstrassen aus der Ukraine gebracht werden.
Um die Ausfuhr zu erleichtern, soll nach dem Plan der Kommission an den EU-Grenzen zudem mehr Personal eingesetzt werden. An die Betreiber der Schienennetze in Europa appellierte sie, den Exporten aus der Ukraine «zeitlich befristet» Vorrang einzuräumen und ihnen Zeitfenster auf der Schiene bereitzustellen.
Auch aus einem anderen Grund sei die Lage dringlich, teilte die Kommission mit, denn das Getreide drohe zu verkommen: An den Grenzübergängen zwischen der Ukraine und der EU warteten derzeit «Tausende Waggons und Lastkraftwagen auf ihre Abfertigung». Im Falle der Waggons dauere der Vorgang momentan durchschnittlich zwischen 16 und 30 Tage.
Für einen Frachter braucht es 34 Züge
Ein weiteres Problem unter vielen anderen erkennt die EU-Kommission in den unterschiedlichen Spurweiten der Schienen in der Ukraine und in der EU. Das führe dazu, dass «die meisten Güter auf Lastwagen oder Waggons umgeladen werden müssen», wie sie mitteilte.
Wie gross das Problem des Transports tatsächlich ist, erklärte Lars Kuchenbuch, der Geschäftsführer des Agrarhändlers KS Agrar, dem Nachrichtenmagazin «Spiegel». Die angedachten Wege seien nicht nur viel länger und teurer, auch lasse sich so viel weniger Ware transportieren: Für einen Frachter, der 60'000 Tonnen Weizen laden könne, brauche man 1090 Waggons, rechnet Kuchenbuch vor. Da ein Ganz-Zug aus 32 Waggons bestehe, seien also ganze 34 Züge nötig, um einen solchen Frachter zu ersetzen.
Damit wird nicht nur der Stau an den Grenzen zur EU noch bedeutend wahrscheinlicher, auch ist noch nicht geklärt, wie die Fracht dann in der EU gelagert werden soll. Die Kommission hält hierzu nur kurz und unverbindlich fest, sie werde die «in der EU verfügbaren Lagerkapazitäten bewerten und sich mit den Mitgliedstaaten abstimmen, um mehr Kapazitäten für die vorübergehende Lagerung ukrainischer Ausfuhren zu sichern.»
Hunger als Waffe
Wegen der russischen Hafen-Blockaden, warf der deutsche Landwirtschaftsminister Moskau am Freitag vor dem Treffen mit seinen G7-Amstkollegen vor, Hunger gezielt als Waffe einzusetzen. Die Art der Kriegsführung von Putin sei «besonders perfide», sagte Özdemir, weil die Ukraine so wichtig sei: Allein die Hälfte des Weizens für das World Food Programme komme aus dem Land. Die Verknappung und die Erhöhung der Preise seien eine bewusste Kriegsstrategie. Derzeit sei Odessa der letzte freie Seehafen der Ukraine. Er dürfe «nicht fallen», forderte der Minister.
Dass den Getreidelieferungen eine immense Bedeutung zukommt, machte auch der russische Ex-Präsident Dmitrij Medwedew jüngst in einem Telegram-Post deutlich. Er drohte hier, Russland werde seine Getreidelieferungen an all jene Länder einstellen, die sich den westlichen Sanktionen angeschlossen hätten. «Unser Essen ist unsere stille Waffe», schrieb Medwedew, «leise, aber gewaltig».
Russland bringt sich als Problemlöser ins Spiel
Passend zu dieser Aussage verkündete der russische Präsident Wladimir Putin am gestrigen Donnerstag einen neuen Ernterekord und präsentierte sich zugleich als Problemlöser bei der weltweiten Lebensmittelversorgung:
«Nach Einschätzung von Spezialisten – das sind natürlich nur vorläufige Schätzungen – könnte sich die Getreideernte auf 130 Millionen Tonnen belaufen, darunter 87 Millionen Tonnen Weizen», erklärte der Kremlchef auf einer Regierungssitzung.
Bei einem entsprechenden Ernteresultat sei es aber wieder möglich, den Export anzukurbeln, teilte Putin mit. Ein solcher Rekord erlaube es Russland «nicht nur problemlos unsere eigenen Bedürfnisse zu decken, sondern auch die Lieferungen auf den Weltmarkt für unsere Partner zu steigern, was für den globalen Lebensmittelmarkt wichtig ist.»