Ukrainer von Granate getroffenEr verlor im Krieg sein Augenlicht – doch nun heiratet er seine grosse Liebe
dpa/twei
16.9.2023 - 18:35
Seine Zukunft hat sich Iwan Soroko vor anderthalb Jahren ganz anders vorgestellt. Doch der Ukraine-Krieg hat alles verändert. Sein persönliches Glück lässt er sich dadurch nicht nehmen.
16.09.2023, 18:35
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«Wer will mich jetzt noch?»: Ein russischer Granatsplitter kostete Iwan Soroko sein Augenlicht.
Doch in den Wirren des Krieges lernte der ukrainische Veteran dank einer Dating-App auch seine Traumfrau kennen.
Seinen Optimismus hat Soroko mittlerweile wiedergefunden. Nun stand für den Kriegsversehrten die Hochzeit an.
Ein russischer Granatsplitter hat Iwan Soroko das Augenlicht genommen und so kann er nicht sehen, wie seine Braut im Haus seiner Familie ankommt. Doch als die 25-jährige Wladislawa Rjabez im schulterfreien Kleid und mit weissen Blumen in der Hand auf ihn zutritt, weint Soroka vor Glück. Monate nachdem ihm ein feindliches Artilleriegeschoss erblinden lassen hat, beginnt für ihn ein neues Leben.
«Das erste, was ich nach meiner Verletzung gesagt habe, war: Wer will mich jetzt noch?», sagt der 27-jährige Veteran in Bortnytschi bei Kiew. Inzwischen habe er sich wiederhergestellt. «Ich sehe mit meinen Gefühlen, mit meinen Emotionen», sagt er.
Dutzende Gäste sitzen um den Gartentisch der Familie. Ein Zelt ist mit Girlanden und Ballons geschmückt. Die Feier steckt voller ländlicher ukrainischer Traditionen. Volkslieder und Lachen liegen in der Luft. Nachbarn und Freunde strömen in das bescheidene Hirtenhaus und stossen auf das Brautpaar an. Auf dem Tisch liegt ein Brot, das mit den Beeren des Schneeballstrauchs geschmückt ist – einem Symbol der Fruchtbarkeit.
Grossmutter fühlt mit Versehrtem: «Mein Enkel tut mir leid»
Doch in der Freude und Ausgelassenheit der Feier schwingt ein Hauch von Angst, denn das Land steckt immer noch in einem erbitterten Krieg gegen die russischen Invasoren. Die Nachrichtenagentur AP hat Soroko das erste Mal in einem Rehabilitationszentrum für ehemalige Soldaten getroffen, die im Kampf erblindet sind. Die Romanze zwischen ihm und Rjabez ist nicht ungewöhnlich für eine Ukraine im Krieg. Überall in der Hauptstadt trifft man auf junge Männer mit Prothese, Hand in Hand mit der Frau oder Freundin oder mit Verwandten.
Viele Paare begegnen sich nur flüchtig bei seltenen Heimatbesuchen. Manchmal fahren Ehefrauen in Städte nahe der Front, um den Geliebten wenigsten für ein paar Stunden zwischen den Kampfeinsätzen zu sehen. Seit dem Beginn des russischen Angriffs gibt es deutliche mehr Hochzeiten, weil vielen Paaren klar geworden ist, wie unsicher und vielleicht auch kurz die Zukunft geworden ist.
«Mein Enkel tut mir so leid, dass er nicht sehen kann, was um ihn herum geschieht, diese Schönheit», sagt Sorokas 86 Jahre alte Grossmutter Natalija mit leiser werdender Stimme und wischt sich die Tränen weg. «Gott sei Dank, dass er diese goldige Frau in seinem Leben hat.»
Verlobung inmitten des Krieges
Die beiden haben sich Internet getroffen – am 6. April 2022, keine zwei Monate nachdem russische Invasoren die Ukraine überfallen hatten. Soroka erholte sich in einem Militärkrankenhaus von einer Lungenentzündung und hatte sich auf einer Dating-App angemeldet. Da sah er Rjabez' Profilfoto. «Hallo» schrieb er. Soroka war ehrgeizig und getrieben, sie war geduldig und grosszügig und arbeitete mit autistischen Kindern in einer Klinik.
«Du bist jetzt die Meine» schrieb ihr Soroka nach wochenlangem Hin und Her per Mail. Als Antwort schickte sie ihm die Masse ihres Ringfingers – es war nur ein Scherz. Nach sechs Wochen trafen sie sich auf einen Kaffee, Soroka hatte kurz Fronturlaub. «Wo ist mein Ring?», fragte Rjabez wieder im Scherz. «Genau hier», entgegnete Soroka und zauberte einen schimmernden Verlobungsring hervor.
Doch Sorokas Einheit wurde nach Bachmut verlegt, das später Schauplatz der längsten und blutigsten Schlacht des Krieges werden sollte. Am 2. August 2022 erhielten sie den Befehl, sich bei Horliwka zurückzuziehen, weil ihr Frontabschnitt zerstört war. Sie begannen in der Nacht damit, bei Tageslicht gerieten sie unter russischen Beschuss. Sorokas Augen wurden von einem Splitter getroffen. Auch sein Bein bekam etwas ab, musste aber zum Glück nicht amputiert werden.
Verwundeter Ukrainer behält sich Optimismus
Sorokas Mobiltelefon wurde ebenfalls getroffen und von der Druckwelle zerdrückt. Rjabez konnte ihren Verlobten nicht erreichen und machte sich Sorgen. Im Spital half ihm eine Krankenschwester, seine SIM-Karte aus dem Telefon zu bekommen, so dass Soroka an seine SMS herankam und Rjabez schreiben konnte.
Als Soroka nach Winnyzja ins Krankenhaus kam, war er kaum noch wiederzuerkennen. Rjabez besuchte ihn jedes Wochenende, bis er vor knapp einem Jahr entlassen wurde. Beide hofften, dass seine Augen heilen und er wieder sehen würde, doch vergeblich. Doch Rjabez liess sich davon nicht beirren. «Für mich hat sich nichts geändert», sagt sie.
In einer Ecke des Gartens in Bortnytschi gönnt sich Sorkas Vater Olexandr eine Zigarette. Als ehemaliger Soldat der Roten Armee hätte auch er eingezogen werden können, anstelle seines Sohnes, sagt der 55-Jährige. «Ich mache mir Vorwürfe», fügt er mit zitternder Stimme hinzu.
Soroka dagegen wendet sich entschlossen der Zukunft zu. Er hofft, Arbeit zu finden und vor allem auf ein erstes Kind. In einem Park in Kiew wirbelt er seine Frau herum, für Hochzeitsfotos, die er nie sehen wird. Rjabez nimmt ihn bei der Hand und führt ihn.
Wodka fliesst in Massen: «Auf das glückliche Paar»
Während der Hochzeitsfeier schlüpfen die Eltern von Braut und Bräutigam in traditionelle ukrainische Kleidung. Weil Rjabez und Soroka jeweils die letzten ihrer Kinder sind, die unter die Haube kommen, werden die Eltern gemäss dem Brauch in eine Schubkarre gesteckt und ins Wasser geworfen.
Die Gäste folgen der Schubkarre durch das Dorf, Passanten bekommen einen Wodka angeboten. Je mehr bitterer Alkohol jetzt getrunken werde, desto weniger bitter werde die neue Ehe, sagen sie. Als Sorokas Eltern aus der Karre in den kühlen Dorfteich plumpsen, zur Feier der Tatsache, dass jetzt auch das letzte Kind flügge geworden ist, geben sich die Neuvermählten einen Kuss. «Auf das glückliche Paar» ruft die Menge.