Deutschland und die UkraineDas sind die Knackpunkte einer schwierigen Beziehung
toko
14.6.2022
Zwischen der Ukraine und Deutschland kommt es seit Putins Invasion häufiger zu Misstönen. Nun legt Präsident Selenskyj nach. Worum geht es bei den angespannten Beziehungen zwischen beiden Ländern?
toko
14.06.2022, 18:10
14.06.2022, 21:24
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Schon vor dem Einmarsch von Putins Truppen kriselte es zwischen Deutschland und der Ukraine. Nach Kriegsbeginn lehnte es Präsident Wolodymyr Selenskyj sogar ab, seinen deutschen Kollegen Frank-Walter Steinmeier zu empfangen. Der Sozialdemokrat prägte als deutscher Aussenminister einst die Politik des Landes gegenüber der Ukraine und Russland massgeblich.
Offiziell gilt der Streit zwar als beigelegt, dennoch belasten Differenzen das Verhältnis zwischen den beiden Ländern. Die ukrainische Seite prangert wiederholt mangelnde Unterstützung im Allgemeinen und unzureichende Waffenlieferungen im Besonderen an, ausserdem eine zu nachgiebige Haltung gegenüber Russland.
So auch Präsident Wolodymyr Selenskyj. Er legt im Interview mit dem «heute journal» am Montagabend einmal mehr nach und fordert eine eindeutigere Haltung bei der Unterstützung seines Landes. Noch immer werde zu viel Rücksicht auf Russland genommen.
Was ist dran an der implizit und explizit geäusserten Kritik Selenskyjs? Und was erwartet die Ukraine von Scholz bei dessen anstehendem Besuch?
Spagat zwischen Ukraine und Russland?
«Scholz und seine Regierung müssen sich entscheiden», sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und fügt hinzu: «Es darf kein Spagat versucht werden zwischen der Ukraine und den Beziehungen zu Russland.»
Der deutsche Bundeskanzler müsse eine Position einnehmen und nicht suchen, wo es am wenigsten wehtue in den Beziehungen zu Russland und der Ukraine. Dieser Ansatz sei falsch.
Die von Selenskyj geäusserte Kritik ist nicht neu. Auch von anderer Stelle muss sich Scholz den Vorwurf gefallen lassen, er sei zu nachgiebig gegenüber Russland. Insbesondere an der hartnäckigen Haltung beim Erdgas-Embargo stören sich die Ukraine und auch Verbündete — allen voran die USA.
Deutschland ist stark von russischem Gas abhängig. Forderungen etwa nach einem Gasembargo sind daher im Inland umstritten. Jüngsten Angaben des Wirtschaftsministeriums zufolge sank die Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas seit Kriegsbeginn immerhin von zuvor 55 Prozent auf etwa 35 Prozent. Bis Sommer 2024 ist demnach eine schrittweise Verringerung auf zehn Prozent des Gasverbrauchs möglich.
Scholz wird ausserdem dafür kritisiert, dass er einen Satz partout nicht aussprechen will, den der Oppositionsführer sowie die eigene Aussenministerin schon mehrfach geäussert haben: «Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen.»
Streitpunkt Waffen
Deutschland habe später als andere Staaten begonnen, die Ukraine militärisch zu unterstützen, sagte Selenskyj. «Das ist eine Tatsache.» Die USA, die Slowakei, Polen, Grossbritannien «waren die ersten, die geliefert haben, Bulgarien und Rumänien haben auch geholfen», ebenso die baltischen Staaten.
Deutschland und Frankreich hätten zwar politisch und rhetorisch die Ukraine unterstützt, «aber damals am Anfang des Krieges brauchten wir nicht die Politik, sondern die Hilfe», sagte Selenskyj. Inzwischen seien sie «Gott sei Dank» dazugekommen. Über den Umfang der Waffenhilfe aus Deutschland wollte Selenskyj keine Aussage machen.
Der Vorwurf, Deutschland lieferte Waffen später als andere Länder, lässt sich nur schwer ausräumen. Unvergessen die stolze Ankündigung der deutschen Verteidigungsministerin Christine Lambrecht noch vor dem russischen Angriff, der Ukraine 5'000 Schutzhelme aus Beständen der Bundeswehr zu liefern.
Nach anfänglicher Weigerung begann Deutschland im Rahmen der von Scholz im Bundestag skizzierten Zeitenwende Ende Februar, Waffen zu liefern. Mittlerweile hat die Ukraine — neben den 5'000 Helmen — unter anderem auch rund 2'500 Luftabwehrraketen und 900 Panzerfäuste erhalten.
Nach einer aktuellen Antwort des deutschen Wirtschaftsministeriums auf eine parlamentarische Anfrage hat die Regierung in den ersten gut drei Kriegsmonaten Waffen und Rüstungsgüter für 350 Millionen Euro (rund 362 Millionen Franken) für die Ukraine genehmigt.
Schwere Waffen aus Deutschland sind jedoch noch nicht in der Ukraine angekommen. Zugesagt wurden bisher sieben Panzerhaubitzen, vier Mehrfachraketenwerfer, etwa 50 Flugabwehrpanzer vom Typ Gepard und ein Raketenabwehrsystem vom Typ Iris-T.
Die USA haben der Ukraine von Kriegsbeginn bis zum 1. Juni nach Regierungsangaben Waffen und Ausrüstung im Wert von 4,6 Milliarden Dollar (rund 4,57 Milliarden Franken) zugesagt oder geliefert. Dazu gehören zahlreiche schwere Waffen, zum Beispiel Haubitzen und Mehrfachraketenwerfer. Gemessen an ihrer Wirtschaftskraft haben die drei kleinen baltischen Staaten besonders viele Waffen geliefert.
Neben der Sorge des deutschen Kanzlers, Deutschland und die NATO könnten mit der Lieferung bestimmter Waffen selbst als Kriegspartei angesehen werden, sind die deutschen Streitkräfte nach jahrelangem Sparkurs und anderen Widrigkeiten selbst teils nicht genügend ausgerüstet.
Die Regierung in Kiew wirft der Bundesregierung unterdessen weiterhin vor, zu zögerlich zu liefern. Seit dem 3. Mai seien zwar sechs Millionen Schuss Munition angekommen, aber keine Waffen mehr, sagte Botschafter Melnyk. «Daher hoffen wir, dass die Ampel-Regierung endlich auf das Gaspedal drückt, um sowohl den Umfang als auch das Tempo massiv zu erhöhen, damit die Ukraine die russische Grossoffensive im Donbass abwehren kann.»
Das bislang gelieferte Material reicht der Regierung in Kiew bei Weitem nicht aus, sie erhöht den Druck noch einmal. So forderte der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, von Scholz die Zusage von Leopard-Kampfpanzern und Marder-Schützenpanzern.
«Ohne deutsche schwere Waffen wird es uns leider nicht gelingen, die gewaltige militärische Überlegenheit Russlands zu brechen und das Leben von Soldaten und Zivilisten zu retten», sagte Melnyk der Deutschen Presse-Agentur.
EU-Beitritt der Ukraine
Selenskyj erwartet, dass die Europäische Union seinem Land noch in diesem Juni den Status eines Beitrittskandidaten zuerkennt. Von Scholz wünsche er sich, dass dieser persönlich die EU-Mitgliedschaft der Ukraine unterstütze, sagte Selenskyj.
Am Freitag entscheidet die EU-Kommission, ob die Ukraine für den EU-Beitritt kandidieren darf. Das Gesuch ist unter den Mitgliedsstaaten jedoch umstritten. Neben Frankreich drückt auch Deutschland auf die Bremse.
Unterstützt wird das ukrainische Ersuchen vor allem von osteuropäischen Staaten, als ausdrückliche Skeptiker gelten die Niederlande und Dänemark. Italiens Ministerpräsident Mario Draghi erklärte Ende Mai sogar, «fast alle grossen EU-Mitglieder» seien gegen einen Kandidatenstatus für die Ukraine – «mit Ausnahme Italiens».
Scholz-Besuch steht an
Die in den nächsten Tagen erwartete Kiew-Reise von Scholz, Macron und Draghi wurde bislang von keiner der drei Regierungen offiziell bestätigt. Die italienische Zeitung «La Stampa» berichtete, die drei Staats- und Regierungschefs würden am Donnerstag in der ukrainischen Hauptstadt erwartet.
An das kolportierte Treffen zusammen mit Macron und Drahghi — sollte es denn stattfinden — sind dennoch hohe Erwartungen geknüpft. Ein Besuch hätte zunächst mal eine wichtige Signalwirkung. «Ich glaube, man kann die Situation besser verstehen, wenn man Städte wie Butscha mit eigenen Augen gesehen hat», sagte etwa Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko der «Bild».
Die Ukrainer erwarteten, dass Scholz bei seinem Besuch in Kiew ein neues Hilfspaket verkündet, das unbedingt «sofort lieferbare Leopard-1-Kampfpanzer sowie Marder-Schützenpanzer beinhalten soll». Das Rüstungsunternehmen Rheinmetall hat Marder- und Leopard-Panzer angeboten.
Selenskyj hatte Scholz schon vor Wochen eingeladen. Der deutsche Kanzler hat stets betont, er werde nur nach Kiew reisen, wenn es konkrete Dinge zu besprechen gebe.
Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und afp.