Experte zu Israels Bodenkrieg «Ob das einem Ende der Hamas gleichkommt, ist fraglich»

Von Dominik Müller

1.11.2023

Ein Panzer der israelischen Armee während der Vorbereitungen auf die Bodenoffensive nahe der Grenze zum Gazastreifen. (Bild vom 28. Oktober 2023)
Ein Panzer der israelischen Armee während der Vorbereitungen auf die Bodenoffensive nahe der Grenze zum Gazastreifen. (Bild vom 28. Oktober 2023)
Bild: Keystone

Militärstrategie-Experte Michel Wyss spricht im Interview mit blue News über die schrittweise Verschärfung der israelischen Bodenoffensive, die Chancen zur Vernichtung der Hamas und ein mögliches Eingreifen des Iran.

Von Dominik Müller

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Militärstrategie-Experte Michel Wyss von der Militärakademie an der ETH Zürich schätzt im Interview die Entwicklung der israelischen Bodenoffensive ein.
  • Je länger die Militäroperation andauere, desto grösser sei die Wahrscheinlichkeit, dass dabei Geiseln zu Schaden kommen.
  • Israel könne die militärische Infrastruktur der Hamas zerstören und deren Anführer töten. Ob das einem Ende der Organisation gleichkommt, sei aber fraglich.
  • Für einen direkten Konflikt mit Israel würden dem Iran die dazu notwendigen konventionellen militärischen Fähigkeiten fehlen. Im Raum stehe aber eine indirekte Konfrontation durch Stellvertreter-Organisationen.

Michel Wyss, die israelische Armee rückt immer weiter Richtung Gaza-Stadt vor. Welches Kalkül steckt hinter dem schrittweisen Vorgehen?

Momentan sieht es so aus, als würde die israelische Armee ihre Bodenoperation sukzessive ausweiten. Die langsame und methodische Vorgehensweise entspricht im Wesentlichen den Realitäten des Kampfs im überbauten Gelände. Israel ist momentan offenbar dabei, den Einsatzraum abzuriegeln wird danach voraussichtlich versuchen, die verschiedenen Stadteile von Gaza-Stadt systematisch zu isolieren und von Kämpfern der Hamas, des Palästinensischen Islamischen Dschihads sowie weiteren Organisationen zu säubern.

Wie wirkt sich dieses Vorgehen auf den Zeitrahmen aus? Muss man sich auf einen langen Krieg einstellen?

Dies hängt von verschiedenen Faktoren ab: die Zielsetzung der Israelis und der Grad der Zielerreichung, der Widerstand der Palästinensergruppierungen sowie der politische Druck aus dem In- und Ausland, etwa aufgrund von Kollateralschäden oder eigenen Verlusten. Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant hatte angekündigt, dass diese «zweite Phase» mehrere Monate dauern würde.

Gefährdet das israelische Vorgehen die Sicherheit der Geiseln?

Michel Wyss
MILAK

Michel Wyss ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Militärakademie der ETH Zürich. Er forscht unter anderem zu Stellvertreterkriegführung unter nicht-staatlichen Akteuren.

Pauschalaussagen diesbezüglich sind schwierig zu treffen. Aber je länger eine Militäroperation andauert, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass dabei auch Geiseln zu Schaden kommen werden.

Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass Israel sein erklärtes Kriegsziel, die «vollständige Vernichtung der Hamas», erreichen kann?

Das hängt davon ab, was unter «vollständiger Vernichtung der Hamas» zu verstehen ist. Die militärische Infrastruktur kann zerstört, die Anführer getötet werden. Ob das einem Ende der Organisation gleichkommt, ist aber fraglich. Die Hamas hat auch Funktionäre im Westjordanland beziehungsweise im Exil, welche versuchen werden, die weitere Existenz der Organisation auch nach einer erfolgten Militäroperation sicherzustellen. Die Frage stellt sich auch, was auf eine allfällige Entmachtung der Hamas im Gazastreifen folgen wird.

Was sind erwartbare Reaktionen von anderen Staaten, insbesondere vom Iran, auf die Bodenoffensive Israels?

Viele arabische Staaten, auch jene mit freundschaftlichen Beziehungen zu Israel beziehungsweise mit einem Friedensabkommen, spüren den Druck durch ihre Bevölkerungen und äussern sich dementsprechend kritisch zur israelischen Vorgehensweise.

Der Iran dürfte keinen direkten Konflikt mit Israel suchen, weil schlicht die dazu notwendigen konventionellen militärischen Fähigkeiten fehlen. Im Raum steht eine indirekte Konfrontation durch Proxy-Kräfte – sprich Stellvertreter – wie etwa Hisbollah oder pro-iranische Milizen in Syrien, Irak oder Jemen.

Droht bei einer indirekten Konfrontation eine neue Eskalationsstufe?

Die USA bemühen sich, den Iran vor einer solchen Vorgehensweise abzuschrecken und nach Aussagen aus dem Libanon ist auch die Hisbollah nicht an einer grossen Konfrontation interessiert. Nichtsdestotrotz ist die Gefahr einer Eskalation, möglicherweise auch einer unbeabsichtigten aufgrund von Fehlkalkulationen, akut.

Transparenz-Hinweis: Michel Wyss hat die Fragen aus Zeitgründen schriftlich beantwortet.

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