Nahost-Experte Erich Gysling «Die Doppelstrategie Israels kann nicht aufgehen»

Von Dominik Müller

8.4.2024

In der Stadt Chan Junis im Süden des Gazastreifens lieferte sich die israelische Armee monatelange, erbitterte Kämpfe mit Hamas-Kämpfern.
In der Stadt Chan Junis im Süden des Gazastreifens lieferte sich die israelische Armee monatelange, erbitterte Kämpfe mit Hamas-Kämpfern.
Bild: Israel Defense Forces/XinHua

Israel hat den Grossteil seiner Truppen aus dem Gazastreifen abgezogen. Was bedeutet das für den Kriegsverlauf? Nahost-Experte Erich Gysling schätzt die Situation ein.

Dominik Müller

8.4.2024

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Die israelische Armee hat einen Grossteil ihrer Truppen aus der Stadt Chan Junis im Süden des Gazastreifens abgezogen.
  • Gemäss Nahost-Experte Erich Gysling ist der Entscheid vor allem eine Reaktion auf internationale Kritik.
  • Für den weiteren Kriegsverlauf schätzt er die Bedeutung des Truppenabzugs nur gering ein.

Am Sonntag kündigte die israelische Armee überraschend einen Abzug der Truppen aus der umkämpften Stadt Chan Junis im Süden des Gazastreifens an – genau ein halbes Jahr nach dem Angriff der Hamas. Nahost-Experte Erich Gysling schätzt im Interview die Hintergründe und Auswirkungen des Rückzugs ein.

Herr Gysling, Israels Militär begründet den Abzug der Truppen aus dem Süden des Gazastreifens damit, man habe die eigenen Ziele dort erreicht. Ist das tatsächlich so?

Israel hat nur sehr wenige Ziele erreicht in den letzten sechs Monaten Krieg. Die Hamas-Spitze ist immer noch da, die Angriffe der Hamas auf Israel dauern noch immer an und es ist nicht gelungen, Geiseln durch die Art und Weise, wie Israel diesen Krieg führt, zu befreien.

Was hat die israelische Armee sonst zu diesem Entscheid bewogen?

Man muss sich die Kleinräumigkeit des Gazastreifens vor Augen führen. Er ist nur 15 bis 17 Kilometer breit und rund 50 Kilometer lang. Wir sprechen also über eine sehr kleine Region. Das heisst auch: Wenn Israel Truppen wieder zurückschicken will, ist dies eine Frage von nur wenigen Stunden. Deshalb vermute ich hinter dem Truppenabzug vor allem den Versuch, zu zeigen, dass man die mahnenden Worte von US-Präsident Biden gehört hat und mehr Rücksicht auf die Bevölkerung im Kriegsgebiet nehmen will. Und vielleicht soll damit auch ein Signal an die derzeit laufenden Verhandlungen über ein mögliches Geiselabkommen in Kairo gesendet werden.

Dann ist das nur ein Alibimanöver, um die internationale Kritik verstummen zu lassen?

Der Truppenabzug ist für mich nicht viel mehr als ein Signal und keine Veränderung der israelischen Grundhaltung. Entsprechend ist die Bedeutung für den weiteren Kriegsverlauf gering. Die Armee sagt auch selbst, der Krieg sei noch nicht beendet.

Zur Person
Portrait of Erich Gysling, publicist, correspondent and Middle-East expert, pictured on June, 28, 2011, in Affoltern am Albis, canton of Zurich, Switzerland. (KEYSTONE/Gaetan Bally)
Keystone

Erich Gysling ist ein Publizist, Journalist und Autor aus Zürich. Er arbeitete in den 1960er-Jahren für die SRF-«Tagesschau», gründete das Politmagazin «Rundschau» mit und leitete zehn Jahre die Ausland-Redaktion der «Weltwoche». Von 1985 bis 1990 amtete er als Chefredaktor von SRF. Seit 1996 ist Gysling freiberuflich als Journalist und Moderator tätig. Gysling absolvierte ein Arabisch-Studium und verfasste drei Bücher zum Nahen Osten.

Was kann die israelische Armee im Gazastreifen überhaupt noch bewirken?

Das ist die grosse, wichtige Frage. Wenn man beispielsweise versucht, sich in die Haut der wichtigen Hamas-Kommandanten zu versetzen, wird die Problematik offensichtlich: Israel sagt, es wolle die Hamas vollständig vernichten und gleichzeitig die Geiseln befreien. Wenn die Geiseln also freigelassen werden, verlieren die Hamas ihre menschlichen Schutzschilder, und das kann kaum im Interesse der Hamas sein. Die Doppelstrategie Israels kann deshalb nicht aufgehen. Zumal auch nach einer allfälligen Vernichtung der Hamas die Ideologie des Widerstands gegen eine israelische Besatzung bleiben wird.

Der Iran macht Israel für den Luftangriff von letzter Woche auf das iranische Botschaftsgelände in der syrischen Hauptstadt Damaskus verantwortlich. Die Gefahr einer Vergeltung ist gross. Könnte der Truppenabzug auch darauf hindeuten, dass die Angst vor dem Iran grösser ist als vor der Hamas?

Ich sehe den Truppenabzug in keinem direkten Zusammenhang mit dem Anschlag in Damaskus. Aber man kann sagen, dass Israel in Alarmbereitschaft ist, weil sie wissen, dass der Iran zu einer Reaktion gezwungen ist. Ob die iranische Regierung direkt handeln wird oder ob sie einen Vertreter aus der sogenannten «Achse des Widerstands» – sprich proiranische Milizen wie die Hisbollah im Libanon oder die Huthi im Jemen – einsetzen werden, kann man heute nicht sagen.

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