Vier Brandherde, viele Konflikte Darum geht der Krieg erst richtig los, wenn Assad fallen sollte

Philipp Dahm

4.12.2024

Rebellen erobern Villa von Syriens Diktator Assad

Rebellen erobern Villa von Syriens Diktator Assad

Syriens Diktator Bashir Al-Assad ist unter Druck. Seit letzter Woche nehmen islamistische Rebellen überraschend schnell Gebiete ein, die zweitgrösste Stadt Aleppo sollen sie bereits unter ihre Kontrolle gebracht haben. Der syrische Bürgerkrieg, in dem viele Akteure mitmischen, ist innert weniger Tage wieder eskaliert.

04.12.2024

Selbst wenn Baschar al-Assad heute abdanken würde, könnte Syrien nicht auf Frieden hoffen: Unter der Oberfläche brodeln grosse Probleme, die den Bürgerkrieg weiter befeuern würden.

Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Syrien käme nicht zur Ruhe, selbst wenn die syrische Regierung gestürzt würde.
  • Machthaber-Familie Assad gehört zu den Alawiten, die nicht nur wegen ihrer Vergangenheit Ärger bekommen würden, sondern auch, weil sie als Schiiten zu einer Minderheit in einem mehrheitlich sunnitisch geprägten Land sind.
  • Zwischen allen Stühlen: Kurden kämpfen nicht nur gegen Assad, sondern werden auch von anderen Oppositionellen attackiert.
  • Die Türkei unterstützt die beiden grössten Oppositionsgruppen, die sich nicht sehr demokratisch verhalten.
  • Eine davon, die HTS, wird von den USA als al-Qaida-nah eingestuft und ihr Boss mit einem Kopfgeld gesucht.
  • Noch gibt sich der HTS-Anführer gegenüber Christen und anderen Minderheiten tolerant, doch ob das von Dauer ist, wird bezweifelt.

Der syrische Bürgerkrieg ist kompliziert. Es gibt viele verschiedene Fraktionen, die sich immer wieder auch untereinander bekämpfen. Hinzu kommen diverse ausländische Akteure mit eigener Agenda.

Selbst vereinfachte Darstellungen wollen einfach nicht übersichtlich sein. Diese Melange ist dann auch der Grund, weshalb der Konflikt bereits seit 13 Jahren tobt, ohne dass sich eine Partei durchsetzen konnte.

Doch seit am 27. November zunächst die Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS) die Regierungstruppen angreift und sich weitere oppositionelle Gruppen anschliessen, sind die Fronten aufgebrochen. Ob diese Offensive Baschar al-Assads Regime stürzen kann, muss sich zeigen. Klar ist nur, dass seine Niederlage dem Land keinen Frieden bringen würde. Im Gegenteil.

Das sind vier Konflikte, die in Syrien unter der Oberfläche brodeln.

 Die Alawiten – Assads vermeintliche Clique

Die Alawiten sind religiöse Gemeinschaft, die den Schiiten nahesteht und rund 15 Prozent der syrischen Bevölkerung stellt. Dennoch sind sie in der Regierung und im Militär überproportional vertreten, seit die Familie Assad ab dem Jahr 1970 das Land beherrscht.

Die französische Mandatsmacht Frankreich liess 1922 die Gründung eines eigenständigen Alawitenstaates zu, der 1937 in Syrien aufging.
Die französische Mandatsmacht Frankreich liess 1922 die Gründung eines eigenständigen Alawitenstaates zu, der 1937 in Syrien aufging.
Commons/Don-kun, TUBS, NordNordWest

In den folgenden Jahrzehnten gab es viele Konflikte, bei denen die alawitisch geprägte syrische Armee den Staat gegen die sunnitische Mehrheit verteidigt hat, die etwa 74 Prozent der Bevölkerung ausmacht – etwa beim Massaker von Hama 1982, als Zehntausende bei einem Aufstand der Muslimbrüder starben.

Aktuelle Lagekarte des Bürgerkrieges: Wenn Hama und Homs fallen, ist das Gebiet der Alawiten von der Hauptstadt Damaskus abgeschnitten.
Aktuelle Lagekarte des Bürgerkrieges: Wenn Hama und Homs fallen, ist das Gebiet der Alawiten von der Hauptstadt Damaskus abgeschnitten.
Comons/Ecrusized & Rr016

Ob berechtigt oder nicht: Die Alawiten werden für das Regime Assad mitverantwortlich gemacht werden. Nach seinem Sturz müssten sich nicht nur Revanchismus fürchten, sondern auch religiöse Verfolgung, weil sunnitische Radikale Schiiten als Ungläubige betrachten.

Die Kurden – zwischen allen Stühlen

Zwei kurdische Gruppen kontrollieren derzeit rund ein Drittel des syrischen Staatsgebiets. Zum einen sind da die Demokratische Kräfte Syriens oder Syrian Democratic Forces (SDF): In dem kurdisch geführten Bündnis mischen auch sunnitische und aramäischen Milizen mit.

Zum anderen gibt es die Volksverteidigungseinheiten (YPG): Die Türkei stuft die Miliz wegen angeblicher Nähe zur PKK als Terrororganisation ein. Die USA hingegen unterstützen die kurdischen Gruppen, seit diese geholfen haben, den sogenannten Islamischen Staat in Syrien auszuschalten. Das gilt auch für den aktuellen Konflikt, zeigt der Luftangriff im Video unten.

Die kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer sind derzeit offenbar vor allem im Osten des Landes aktiv: Die amerikanische A-10 Warthog im obigen Video hat angeblich einen Konvoi bei Deir ez-Zor angegriffen, der schiitische Einheiten aus dem Irak an die Front bringen sollte. Auch am Boden wird um die Stadt am Euphrat gekämpft.

Sprungbrett über den Euphrat nach Westen: Von Deir ez-Zor (1) führt eine gut 200 Kilometer lange Autobahn bis nach Palmyra (2). Von dort geht es weiter nach Homs oder Damaskus.
Sprungbrett über den Euphrat nach Westen: Von Deir ez-Zor (1) führt eine gut 200 Kilometer lange Autobahn bis nach Palmyra (2). Von dort geht es weiter nach Homs oder Damaskus.
Google Earth/phi

Im Osten kämpfen die Kurden gegen schiitische Milizen und im Norden gegen Assads Armee, doch sie liefern sich auch Gefechte mit anderen Oppositionellen, die von der Türkei unterstützt werden.

Ankara will unbedingt vermeiden, dass die Volksgruppe in Syrien zu stark wird, einen eigenen Staat ausruft und die kurdische Bevölkerung im eigenen Land ermutigt, sich ihnen anzuschliessen.

HTS – Büchse der Pandora

Die Türkei unterstützt die beiden grössten Oppositionsgruppen, die auch Schulungen vom ukrainischen Militärgeheimdienst GUR alias HUR bekommen haben sollen: Neben der bereits genannten HTS, die die jüngste Offensive anstiess, hat die Syrische Nationale Armee (SNA) das grössten Potenzial.

Sie wird von Ankara wohl in hohem Mass geführt, ist gut ausgerüstet und hat für die Türkei die Pufferzone bei Idlib in Nordsyrien eingerichtet, die Präsident Recep Tayyip Erdogan braucht, um nicht Geflüchtete aufnehmen zu müssen. Mehrfach wurde der SNA vorgeworfen, das Kriegsrecht zu missachten. Es geht um Folter, Entführung, Vergewaltigung und Mord.

Die HTS ist sehr viel radikaler. Ihr Name Haiʾat Tahrir asch-Scham bedeutet «Komitee zur Befreiung der Levante». Die Gruppe ist ein Zusammenschluss diverser islamistischer Organisationen und sieht sich als Nachfolger der al-Nusra-Front, die wegen ihrer Nähe zu al-Qaida 2016 aufgelöst wurde.

Der al-Nusra-Boss von einst führt nun die HTS: Abu Muhammad al-Dschaulani führt «mit eiserner Faust», weiss die NZZ: «Politische Gegner und Journalisten wurden verhaftet, getötet und gefoltert, Proteste gewaltsam unterdrückt.» Zuletzt habe sich der knapp 40-Jährige gemässigt gegeben, doch an seinem Sinneswandel zweifelt die NZZ.

Obwohl HTS und SNA wie auch die kurdischen YPG und SDF Assad absetzen wollen, bekämpfen sie sich während der aktuellen Offensive gegenseitig. Es gibt Videos, die angeblich Exekutionen von kurdischen Kämpferinnen und Kämpfern zeigen. Diese werden nicht nur gehasst, weil Ankara es so will, sondern auch, weil sie einen säkularen Sozialstaat aufbauen wollen.

Christen und andere Minderheiten

Syrien ist ethnisch divers. Geschätzt sind 50 Prozent Araber, 15 Prozent Alawiten und 10 Prozent Kurden. 25 Prozent verteilen sich auf kleinere Gruppen, von denen einige auch christlich sind. Etwa 10 Prozent der Bevölkerung gehören zur christlichen Minderheit.

Der Dschihadisten-Fürst al-Dschaulani von der HTS gibt sich – noch – tolerant: «Fällt keine Bäume, erschreckt keine Kinder und flösst unserem Volk, gleich welcher Religion, keine Angst ein», hält er seine Leute vor der Eroberung von Aleppo an. Dass seine Mitteilung extra ins Englische übersetzt wird, zeigt, dass al-Dschaulani jetzt nicht die Pferde scheu machen will.

Nach der Einnahme von Aleppo durch HTS und andere Gruppen gestatten die Islamisten den Christen, Gottesdienste abzuhalten: Auch die Vorbereitungen auf Weihnachten verliefen normal, sagt ein Bischof nach der Eroberung der Stadt. Dass es dauerhaft so bleiben wird, darf jedoch bezweifelt werden.

Abu Muhammad al-Dschaulani (Mitte) erklärt 2016 die Auflösung seiner al-Nusra-Front, um dann die 2017 gegründete HTS zu leiten.
Abu Muhammad al-Dschaulani (Mitte) erklärt 2016 die Auflösung seiner al-Nusra-Front, um dann die 2017 gegründete HTS zu leiten.
EPA

Das Pentagon stuft die HTS als al-Qaida-nahe Organisation ein. Auf ihren Boss al-Dschaulani haben die USA schon 2013 ein Kopfgeld von 10 Millionen Dollar ausgelobt. Nach dessen Lesart des Islam haben säkulare Kurden, schiitische Alawiten, aber auch Christen oder Drusen keine Daseinsberechtigung in einem Staat, wie er ihn will.

Auch wenn Assad fallen sollte, sieht Syriens Zukunft düster aus.


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