Umkämpfte GrossstadtDarum ist Cherson für Putin so wichtig
Von Oliver Kohlmaier
26.10.2022
Ukrainische Truppen rücken im Süden des Landes immer weiter vor, um Cherson zu befreien. Der russische Präsident Wladimir Putin will sie um jeden Preis halten: Warum ist die Stadt am Dnipro so entscheidend?
Von Oliver Kohlmaier
26.10.2022, 18:37
Von Oliver Kohlmaier
Putins Truppen geraten nicht nur im Osten des Landes immer stärker in Bedrängnis, sondern auch Süden. Nach russischen Angaben hat die Ukraine bereits vor rund einer Woche Kräfte an der südlichen Front zusammengezogen.Für die teilweise besetzte Region Cherson kündigte ein hochrangiger ukrainischer Beamter am Dienstag «schwerste Kämpfe» an.
Für beiden Seiten im Fokus steht dabei die gleichnamige Hauptstadt. Sowohl für Putin, als auch für Selenskyj ist Cherson von überragender militärischer und politischer Bedeutung. Seit Wochen versucht die ukrainische Armee, die Besatzer zunächst bis an den Dnipro zurückzudrängen, um schliesslich Cherson zu befreien.
Putins Armee hat in den vergangenen Wochen diverse strategisch wichtige Städte und Positionen aufgegeben, teils auch fluchtartig verlassen. In Cherson jedoch stellen sich beide Seiten auf einen harten Kampf ein. Warum ist die Stadt im Süden so wichtig, und was würde ihre Befreiung für den weiteren Kriegsverlauf bedeuten?
Die Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Was ist bisher passiert?
Cherson fiel gleich zu Beginn der Invasion in russische Hände. Putins Truppen stiessen von der 2014 annektierten Halbinsel Krim Richtung Norden vor. Bereits am 27. Februar meldete der russische Generalstab, man habe Teile der Stadt eingenommen, am 3. März schliesslich war das gesamte Stadtgebiet unter der Kontrolle der Besatzer. Wie die Nowaja Gaseta später berichtete, war Cherson überhaupt nicht verteidigt worden, mit Ausnahme einiger Freiwilliger.
Seitdem befindet sich Cherson unter russischer Verwaltung. Ukrainische Widerstandskämpfer führten jedoch Sabotageakte und Attentate auf von Moskau eingesetzte Beamte durch. Noch im Sommer begannen die ukrainischen Streitkräfte, die Versorgungsrouten über den Dnipro unter Beschuss zu nehmen.
Sie zerstörten Munitionsdepots sowie alle grossen Brücken über den Fluss, um die Versorgung russischer Truppen entscheidend zu schwächen. Dabei setzen sie unter anderem die von den USA gelieferten HIMARS-Raketenwerfer (High Mobility Artillery Rocket Systems) ein. Die russischen Truppen mussten in der Folge auf Fähren oder provisorisch errichtete Pontonbrücken ausweichen. Auch diese stehen unter Beschuss.
Warum ist die Stadt Cherson so wichtig?
Hauptsächlich aufgrund ihrer Lage an der Mündung des Dnipro in das Schwarze Meer und wegen ihrer Funktion als Industriezentrum kommt Cherson überragende Bedeutung zu. Der Verlust der Stadt war für die Ukraine auch wirtschaftlich ein schwerer Schlag. Vor Beginn des Krieges hatte sie rund 280'000 Einwohner.
Die Rückeroberung der Provinzhauptstadt würde Kiew helfen, die Kontrolle über einen Teil der Küstenlinie am Schwarze Meer zurückzugewinnen, die für die Getreideexporte des Landes von entscheidender Bedeutung ist.
Darüber hinaus hat Cherson eine wichtige symbolische Bedeutung. Schliesslich ist sie nach nunmehr acht Monaten Krieg die einzige Gebietshauptstadt, die die russischen Streitkräfte erobern konnten. Ihr Verlust wäre daher eine weitere Demütigung für Putin sowie ein wichtiger Etappensieg für Selenskyj.
Was würde eine Rückeroberung für den Kriegsverlauf bedeuten?
Die Ukraine erwartet aus den oben genannten Gründen, dass Putin die Stadt halten will. Dem neuen Kommandeur der russischen Truppen in der Ukraine zufolge schliesst Moskau «schwierige Entscheidungen» nicht aus. Dies wurde mitunter als Hinweis auf einen möglichen Truppenabzug gedeutet. Zuvor hatte Sergej Surowikin die militärische Lage auch allgemein als «angespannt» bezeichnet.
Verschiedenen Medienberichten zufolge ist bereits wichtiges Material aus der Stadt gebracht worden. Am Samstag ordnete die russische Besatzung die vollständige Evakuierung der Zivilbevölkerung an, zudem sollen dem Institute for the Study of War zufolge die Offiziere abgezogen worden sein.
Kyrylo Budanov hält all das für die übliche russische Propaganda. Wie der ukrainische Geheimdienstchef der «Ukrainska Pravda» sagte, bereiten sich die russischen Streitkräfte zwar darauf vor, schnell aus der Stadt zu kommen. Zunächst aber wollten sie sie verteidigen.
Sollten sie allerdings den Rückzug nicht schnell genug antreten, könnten sie in eine ähnliche Situation geraten wie die ukrainischen Einheiten in Mariupol im Frühjahr, so Budanov.
Ein Rückzug aus der Stadt Cherson und ihrer Umgebung westlich des Dnipros würde Russlands Chancen erheblich schmälern, weiter nach Westen vorzurücken und die Ukraine vollständig vom schwarzen Meer abzuschneiden.
Zivilisten fliehen aus Cherson
STORY: Die von Russland eingesetzte Verwaltung im ukrainischen Cherson hat die Zivilbevölkerung am Samstag zum wiederholten Mal aufgefordert, die Hafenstadt unverzüglich zu verlassen. Auch die gesamte Zivilverwaltung müsse umgehend auf das Gebiet östlich des Dnjepr verlegt werden, teilt die Besatzungsverwaltung über den Messanger-Dienst Telegram mit. Angesichts einer erwarteten Offensive ukrainischer Truppen zur Rückeroberung der Stadt im Süden des Landes haben bereits in den vergangenen Tagen Tausende Zivilisten den Fluss in östlicher Richtung überquert. Die Motivation für die Flucht der Menschen klingt dabei allerdings sehr unterschiedlich: «Wir haben keine Angst vor dem Krieg. Wir sind nur besorgt, dass das Wasserkraftwerk Kakhovka bombardiert werden könnte. Das ist beunruhigend. Ich sorge mich daher um meine Familie und ziehe aus Cherson mit der Familie weg.» «Ich werde meine Tochter besuchen. Sie ist in Moskau. Ich bin Russin. Ich möchte also zu meinen Verwandten. Alle Strassen in Cherson sind blockiert. Ich will einfach nur noch weg. Das ist der Hauptgrund.» Die Lage ist nicht nur in Cherson angespannt. Denn Russland hat nach ukrainischen Angaben grosse Teile der Infrastruktur und der Kraftwerke des Landes angegriffen und beschädigt. Daher ist die Stromversorgung in weiten Teilen der Ukraine stark eingeschränkt. Auch in der Hauptstadt Kiew gibt es wiederholt Stromausfälle. Allerdings sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache am Samstag, dass man zwar noch nicht die technischen Möglichkeiten habe, 100 Prozent der russischen Raketen und Kampfdrohnen auszuschalten, aber er sei sicher, dass man dies mithilfe der Partner schrittweise erreichen werde. Bereits jetzt schiesse man einen Grossteil der Marschflugkörper und Drohnen ab, so Selenskyj.
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Dem Militärexperten Oleh Schdanow zufolge würde ein Verlust der Stadt entsprechende Hoffnungen des Kreml zerstören. Der Nachrichtenagentur AP sagte er: «Cherson ist ein Schlüssel zur gesamten südlichen Region, und würde es der Ukraine ermöglichen, wichtige Nachschublinien für die russischen Truppen ins Visier zu nehmen. Die Russen werden mit allen Mitteln versuchen, die Kontrolle über die Stadt zu behalten.»
Für die Ukraine indessen würde die symbolisch wichtige Befreiung der Stadt auch militärisch weitere Optionen eröffnen, etwa das weitere Vorrücken in Richtung Saporischschja.
Zudem würden die russischen Besatzer nach einer Befreiung der Stadt erhebliche Probleme bekommen, die lokale Bevölkerung mit Trinkwasser zu versorgen. Denn einmal im Besitz der Stadt, kann die Ukraine der Krim das Wasser abdrehen, was sie nach der Annexion der Krim 2014 auch tat.
Dazu wurde am Nord-Krim-Kanal ein Damm erreichtet, der die Halbinsel von der Wasserversorgung abschnitt. Der Kanal deckte zuvor jahrzentelang den Trinkwasserbedarf der Krim. Putin führte die Notwendigkeit einer Wiederherstellung der Versorgung als einen der Gründe an für die Invasion der Ukraine.
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Was passiert mit der Bevölkerung?
Die von Russland eingesetzte Verwaltung im ukrainischen Cherson hat die Zivilbevölkerung am Samstag zum wiederholten Mal aufgefordert, die Hafenstadt unverzüglich zu verlassen. Am Wochenende sollen abermals 20'000 Menschen geflohen sein. Wie viele Menschen sich derzeit noch in Cherson befinden, ist unklar. Bereits zuvor haben Tausende Zivilisten den Fluss in östlicher Richtung überquert.
Grosse Sorge bereitet zudem das Wasserkraftwerk Kachowka. Nach fast gleichlautenden Vorwürfen aus Moskau beschuldigt die Ukraine ihrerseits Russland, den Staudamm des Kraftwerk zerstören zu wollen. Demnach haben russische Truppen den Damm vermint, um mit einer Flutwelle einen ukrainischen Angriff in Cherson zu stoppen. Präsident Wolodymyr Selenskyj warnte bereits vor einer «Katastrophe grossen Ausmasses».