Wahlkampf in Deutschland Warum in Berlin auch Enteignungen zur Wahl stehen

Von Maximilian Haase

6.9.2021

Wer wird Kanzler oder Kanzlerin? In Berlin geht es um mehr als die Bundestagswahlen.
Wer wird Kanzler oder Kanzlerin? In Berlin geht es um mehr als die Bundestagswahlen.
Sean Gallup/Getty Images

Kurz vor der deutschen Bundestagswahl schwankt der Wahlkampf in Berlin zwischen Langeweile, Parolen und radikalen Forderungen. Die lokale Politik, über die ebenfalls abgestimmt wird, scheint hier wichtiger als die Kanzlerschaft. Eine Reportage aus einer ambivalenten Hauptstadt.

Von Maximilian Haase

Wer drei Wochen vor der Bundestagswahl in Deutschland auf der Suche nach Symbolik ist, kann sie an einem Samstagnachmittag in Berlin entdecken. Es findet mal wieder eine Demonstration statt, allerdings nicht irgendeine, sondern von einem Bündnis organisiert, das unter dem Motto «Unteilbar» vor Monaten Hunderttausende für mehr Solidarität und gegen Ausgrenzung auf die Strasse brachte. Diesmal sind es weitaus weniger, das mag an Corona liegen, an der gern beklagten Politikverdrossenheit oder an den dunklen Wolken, die den Himmel der Hauptstadt an diesem vorherbstlichen ersten Septemberwochenende bedecken.

Besonders vereinzelt wirken die Gruppen – hier kommt das Symbolische schon ins Spiel – ganz am Ende des Aufzugs, wo sich mit SPD, Grünen und Linken auch drei der Parteien versammelt haben, die sich am 26. September zur Wahl stellen.



Ist hier etwa – ausgerechnet gegenüber dem Panzer-Denkmal für die siegreichen sowjetischen Soldaten und in der Nähe des Bundestags – jenes Linksbündnis schon Realität, das dieser Tage oft als Schreckgespenst beschworen wird? Zumal Seite an Seite mit jungen radikalen Wilden wie «Extinction Rebellion» und «Ende Gelände» (hier haben sie – noch so ein Symbol – schon neben dem Brandenburger Tor Platz genommen), in deren Nähe die Sozialdemokraten im Wahlkampf von konservativer Seite gerne gerückt werden?

Klar sei Rot-Grün-Rot das Ziel, bekräftigen Demonstranten am SPD-Wagen, der mit einem riesigen durchgestrichenen Hakenkreuz samt Slogan «Berlin gegen Nazis» auf sich aufmerksam macht. Man müsse auch mal «selbstkritisch» sein, übt sich ein SPD-Anhänger in Demut. Derweil haben sich unter die Grünen-Gruppe – standesgemäss mit zahlreichen Fahrrädern, bunten Luftballons sowie Poi-Spielern – schon Menschen mit beigefarbenen Jacken und «Die Linke»-Fahnen gemischt.

Die bislang auf Bundesebene unrealistisch erscheinende Koalition, die SPD-Kandidat Olaf Scholz nach seinem plötzlichen Umfragehoch (noch) nicht ausschliessen will – hier scheint sie selbstverständlich. Kein Wunder, wird doch die deutsche Hauptstadt seit fünf Jahren rot-rot-grün regiert, weshalb sie von Konservativen und Liberalen immer wieder gern als abschreckendes Beispiel etwa für «Ineffizienz» herangezogen wird.

Auch lokal wird gewählt

Ob das nach wie vor eine Mehrheit der Berliner*innen anders sieht, wird sich ebenfalls am «Super-Wahlsonntag» zeigen: Neben dem Bundestag wählen die Bürger*innen der Metropole nämlich auch ihr Abgeordnetenhaus – damit auch das Amt des Regierenden Bürgermeisters – ausserdem die sogenannten Bezirksverordnetenversammlungen. Da kann man schon mal durcheinander kommen: Lokale Parteiwerbung mischt sich im Stadtbild munter mit der republikweiten, bisweilen sieht man das Parteiprogramm vor lauter Parolen nicht.

Laternen und Mittelstreifen sind mit Wahlplakaten überfüllt, deren Forderungen von der Wohnungspolitik («Ein Grundrecht auf Wohnen. Statt auf Profite», Grüne) bis zur Coronapolitik («Deutschpflicht statt Maskenpflicht», AfD) reichen – mit Aussagen wie «Ich. Für Dich.» (CDU) oder «Zuhause.» (Linke) manchmal aber auch ganz banal den inhaltsschwachen Wahlkampf illustrieren.

Zur lokalen Berlin-Wahl treten in der Hauptstadt auch viele kleinere Parteien an.
Zur lokalen Berlin-Wahl treten in der Hauptstadt auch viele kleinere Parteien an.
Maximilian Haase

Ein Grünen-Wahlkämpfer, der vor einem Supermarkt Flyer verteilt, bewirbt einen Kandidaten aus dem Bezirk Mitte, zur Kandidatin des wenige Meter entfernt liegenden Stadtteils Kreuzberg solle man sich doch bitte dort informieren. Aber wer genau ist gemeint? Hauptsache «fünf Stimmen Grün»? Das Wahlchaos kann einen schon mal überfordern.

Langweiliger Wahlkampf?

Immerhin: An jeden Haushalt wurden kinderbuchdicke Aufklärungsbroschüren verschickt, die unter dem Titel «Ein Sonntag, drei Wahlen» für Einordnung sorgen wollen. Positiver Nebeneffekt: Dass neben der nationalen auch lokale Wahlen stattfinden, dürfte bei den gerne gelangweilten und indifferenten Berlinern für eine höhere Wahlbeteiligung sorgen. Was im eigenen Bezirk und Kiez passiert, kümmert viele mehr als die grosse Politik, die ein paar Kilometer entfernt gemacht wird.

Zumal es für so manchen bislang der «langweiligste Wahlkampf aller Zeiten» war, wie es gleich mehrere nach ihren subjektiven Eindrücken befragte Wähler*innen formulieren. Zugegeben: Zwar gab ein sogar recht unterhaltsames Triell, zwar sorgen die Wahlumfragen für Spannung und ein paar Skandale um Plagiate und unangemessene Lacher während der Flutkatastrophe für Aufregung.

Und doch erschien die Stimmung selbst in der Hauptstadt, wo die ganze Polit- und Medienaufführung ja zentral stattfindet, bislang irgendwie diffus; die Ambitionen der Amtsanwärter*innen blieben seltsam blutleer. Die hierzulande beliebte, wenn auch grammatikalisch nicht ganz korrekt formulierte Frage «Wer kann Kanzler oder Kanzlerin?» – viele beantworten sie dieser Tage in Berlin mit einem Schulterzucken.

Kreative Parteiaktionen

Natürlich wird zwischen Pankow und Grunewald auch 2021 wie seit Jahrzehnten auf der Strasse Politik gemacht – doch sind dort eben nicht unbedingt die Kandidat*innen gefragt, die sich auf den Plakaten als lächelnde Sympathen oder verantwortungsbewusste Macher präsentierten. Sieht man dieser Tage in Berlin politische Transparente, dann geht es weniger um Scholz oder Laschet als um ein Gedenken an den rassistischen Anschlag in Hanau; hört man Sprechchöre, dann rufen da keine Baerbock-Unterstützer ihre Parolen, sondern wütende Impfgegner.

Und wo politische Veränderung gefordert wird, da – siehe «Unteilbar»-Demo – scheinen die Parteien als Schlusslichter und Anhängsel nur geduldet. 

Und müssen sich also – auch für die lokalen Wahlen – etwas einfallen lassen: Sei es das «Hupen gegen Tempo 30», mit dem die FDP Autofahrer an einer Tankstelle gewinnen will; sei es die Veranstaltung «Pizza und Politik», mit der die SPD in einem Park junge Leute kulinarisch überzeugen möchte. Ganz abgesehen von Kleinparteien wie der Satirepartei «Die Partei», die auch mal mit einem simplen «Nein» per Plakat die Berliner Stimmung auf den Punkt bringt, oder der anarchistischen «Bergpartei», die ihre Plakatwände gleich individuell mit Graffiti gestaltet («Wir wollen nicht nur den Deckel, wir wollen den ganzen Topf»). Der Wahllangeweile will man in der deutschen Kapitale mit Kreativität begegnen.

Die Berliner, sie leben bisweilen eben wirklich in ihrer eigenen Welt. Die wiederum gestalten sie gerne mit.

Wahlkampf in Berlin kann auch so aussehen: Die «Bergpartei» gestaltet ihre Plakate individuell.
Wahlkampf in Berlin kann auch so aussehen: Die «Bergpartei» gestaltet ihre Plakate individuell.
Maximilian Haase

Volksabstimmung über Enteignung

Das zeigt auch die vierte Entscheidung, die die Hauptstädter am 26. September in der Wahlkabine treffen dürfen. Es findet nämlich – hingehört liebe Schweizer*innen – auch eine Volksabstimmung statt. Und die hat es aus Sicht vieler Nicht-Berliner*innen in sich: Unter dem Titel «Deutsche Wohnen und Co. enteignen» können sich die Wähler entscheiden, ob grosse Immobilienunternehmen in Berlin vergesellschaftet werden sollen.

350'000 Unterschriften konnten dafür gesammelt werden, die Ja-Stimmen von mindestens einem Viertel aller Berechtigten braucht die Kampagne bei der Wahl. Die Chancen stehen nach dem Aus des bundesweit diskutierten «Mietendeckels» gut – es ist ein Thema, das in einer Mietermetropole, die mehr und mehr gentrifiziert wird, nicht nur Linksradikale anspricht.

Hier zeigt sich abermals einer der wichtigsten Gründe für den verhaltenen Wahlkampf und die müssige Diskussionskultur in Berlin: Rufe etwa nach Klimaschutz oder sozialer Gerechtigkeit werden hier ohnehin von viel radikaleren Forderungen übertönt. «Unsere Krisenberater», heisst es auf einem Plakat der DKP – illustriert mit dem klassischen Marx-Engels-Lenin-Konterfei. «Enteignen, aber richtig», tönt dieselbe Partei mit Blick auf die Volksabstimmung – schliesslich sieht das Gesetz eine Entschädigung der Immobilienkonzerne vor. Wer im Wahlkampf in Berlin Aufmerksamkeit will, muss schon einen «echten» Sozialismus fordern.

Neue «Rote Socken»-Kampagne?

Den sehen Teile der Konkurrenzparteien auf bürgerlicher, liberaler und rechter Seite selbstredend nicht nur bei Scholz, sondern bereits bei einer möglichen Kanzlerin Baerbock am Horizont aufscheinen wie eine rote Sonne. Für Aufsehen sorgte eine Nicht-Parteien-Aktion, die den Grünen unter anderem «Klimasozialismus» unterstellte. Mancher Beobachter sieht mit Blick auf die «Linksrutsch»-Warnungen schon eine neue «Rote Socken»-Kampagne am Werk.



Derweil fährt die AfD auch in der Hauptstadt ihre Kampagne unter dem Slogan «Deutschland – aber normal». Gemünzt auf die Spreemetropole heisst das dann «Berlin – aber normal», was natürlich unfreiwillig komisch wirkt an einem Ort, wo «Normalität» für jeden etwas gänzlich anderes bedeutet und in manchen Milieus eher mit Ketaminpartys als Kleingartenfest assoziiert wird.

Die unübersehbaren Kontraste zwischen den Parteien, in denen sich für viele die oft zitierte «Spaltung der Gesellschaft» widerspiegelt, könnte letztlich dafür sorgen, dass der Wahlkampf in den entscheidenden letzten Wochen auch in Berlin noch an Fahrt aufnimmt. Nicht immer auf schöne Weise, wie die vermehrten Attacken auf Wahlkampfhelfer*innen verschiedener Parteien zeigen.

Skepsis gegenüber Rot-Grün-Rot auch von links

Zurück auf der «Unteilbar»-Demo zeigt sich abermals, dass einigen Berliner*innen die Politik abseits der Parteien viel wichtiger ist. Fragt man in den Nicht-Parteien-Blöcken nach, scheint sich selbst Rot-Grün-Rot nicht mehr allzu selbstverständlicher Beliebtheit zu erfreuen: Auch an eine linke Koalition habe sie «keine Erwartungen», sagt eine Demonstrantin im sogenannten «Antirassistischen Power-Block». 

Im «Antirassistischen Power-Block» sieht man auch Rot-Grün-Rot eher kritisch.
Im «Antirassistischen Power-Block» sieht man auch Rot-Grün-Rot eher kritisch.
Erbil Basay/Anadolu Agency via Getty Images

Zwar sei Rot-Grün-Rot natürlich besser als Schwarz-Gelb, ergänzt eine andere Protestierende – doch müsse man nur auf die rot-rote Berliner Landesregierung schauen, die einst die landeseigenen Wohnungen «verscherbelt» habe, oder auf die rot-rote Koalition in Thüringen, unter der weiterhin Abschiebungen stattgefunden hätten. Und überhaupt, wer habe «uns verraten», verweist sie augenzwinkernd auf einen gängigen linken Anti-SPD-Slogan. Auch als Sozialdemokrat*in braucht man in Berlin ein dickes Fell.

Oder zumindest noch mehr Symbolik: Die Sonne zeigt sich an jenem Samstagnachmittag, drei Wochen vor der Bundestagswahl, dann doch noch – auf der Abschlusskundgebung der «Unteilbar»-Demo zwischen den sozialistischen Stalinbauten (!) der Frankfurter Allee. Ein Kinderchor singt antirassistische Lieder, die eher an einen Kirchentag erinnern; «Antifaschistinnen tragen Masken», mahnt eine Rednerin.

Auf der «Unteilbar»-Demo in Berlin scheinen die Wahlpräferenzen klar. 
Auf der «Unteilbar»-Demo in Berlin scheinen die Wahlpräferenzen klar. 
Maximilian Haase

Eine andere stellt in kämpferischem Ton klar: «Wir fordern auch nichts von der Politik, sondern bestimmen als Zivilgesellschaft schon lange mit». Bedeutet: So heiss der Wahlkampf in Berlin in diesem Frühherbst noch werden könnte, so spannend sich das Rennen um Bundestag und Senat noch entwickelt – in der Hauptstadt sieht man sich mancherorts politisch längst viel weiter.