Israel «Bibi» vor dem Abschied – Israel entscheidet über Ministerpräsidenten

SDA

13.6.2021 - 06:09

Benjamin Netanjahu, Ministerpräsident von Israel. Foto: Ariel Schalit/AP/dpa
Benjamin Netanjahu, Ministerpräsident von Israel. Foto: Ariel Schalit/AP/dpa
Keystone

Keiner hat Israels Geschicke länger gelenkt als «Bibi»: Zwölf Jahre lang war Benjamin Netanjahu ohne jede Pause Ministerpräsident.

Davor führte der rechtskonservative Politiker schon einmal in der zweiten Hälfte der 1990er die Regierung. Doch nun sieht es so aus, als neige sich seine Ära tatsächlich dem Ende zu. Den Gegnern des 71-Jährigen ist es gelungen, zu seiner Ablösung ein bunt gemischtes Zweckbündnis aus nicht weniger als acht Parteien zu schmieden.

Die neue Koalition muss an diesem Sonntag im Parlament eine Vertrauensabstimmung überstehen und soll dann gleich vereidigt werden. Sicher ist das nicht. Netanjahu und seine Likud-Partei leisten seit Tagen massiven Widerstand, um die Abwahl doch noch zu verhindern. Bei der Abstimmung wird es denkbar knapp: Die geplante Koalition kann sich in der Knesset nur auf eine hauchdünne Mehrheit stützen – 61 von 120 Abgeordneten.

Wie geht es weiter, wenn die Ablösung klappt? Neuer Ministerpräsident würde zunächst Naftali Bennett von der ultrarechten Jamina-Partei, der früher unter Netanjahu Verteidigungsminister war. Der Koalitionsvereinbarung zufolge soll der 49-Jährige bis August 2023 im Amt bleiben. Dann käme Jair Lapid an die Reihe, der Vorsitzende der liberalen Zukunftspartei.

Der 57-Jährige, ein ehemaliger TV-Journalist, hatte nach der jüngsten Wahl den Auftrag zur Regierungsbildung bekommen, nachdem Netanjahu damit gescheitert war. Lapid liess für das Amt des Ministerpräsidenten jedoch Bennett den Vortritt, um die Koalition überhaupt zu ermöglichen. Daran, dass die Partei von Israels designiertem Regierungschef in der Knesset gerade einmal über sieben Mandate vefügt, gibt es bereits erhebliche Kritik.

Die insgesamt acht Bündnispartner umfassen das politische Spektrum von rechts nach links. Erstmals ist auch eine arabische Partei dabei. Vor Lapids Zukunftspartei ist Netanjahus Likud mit 30 Mandaten aber immer noch stärkste Fraktion. Warum also muss der «Zauberer», wie Netanjahu zuhause von vielen genannt wird, die Macht ausgerechnet nun wohl abgeben? Obwohl er gerade vergangenes Jahr viele Erfolge verbuchen konnte, im Kampf gegen Corona, aber auch durch Annäherungsabkommen mit mehreren arabischen Staaten?

Nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Jonathan Rynhold sind die Gründe nicht ideologischer Natur, sondern persönlicher Art. «Seit Netanjahu wegen Korruption angeklagt ist, sind immer mehr Leute zu der Überzeugung gelangt, dass er seine eigenen Interessen über die Interessen des Landes stellt. Und dass der Preis dafür immer höher wird. Um einer Haftstrafe zu entgehen und an der Macht zu bleiben, agiert er zunehmend auf eine Weise, die selbst von früheren Anhängern als schädlich angesehen wird.»

Zudem hat Netanjahu viele frühere Verbündete verprellt. Eigentliche Gesinnungsgenossen aus dem rechten Lager sind nun beim Bündnis gegen ihn dabei. Für den Fall, dass der Machtwechsel tatsächlich stattfindet, wird erwartet, dass Netanjahu aus der Opposition heraus versucht, die neue Regierung zu Fall zu bringen. Deren Erfolgsaussichten sind ungewiss.

Wegen des breiten ideologischen Spektrums könne die Koalition «nichts Entscheidendes in umstrittenen Fragen bewegen», meint Rynhold. Sie werde stattdessen versuchen, «sich auf eine Agenda zu einigen, die die Öffentlichkeit attraktiv findet». Wichtigste Aufgabe sei, erstmals seit zwei Jahren einen Haushalt zu verabschieden. «Israel braucht mehr Krankenhäuser, die Schulklassen müssen kleiner und die Lebenshaltungskosten gesenkt werden.»

Probleme drohten dagegen durch Aktivitäten rechtsgerichteter Gruppierungen, zum Beispiel beim Bau illegaler Siedlungsaussenposten. Die linksliberalen Parteien, die politische Mitte und die arabische Raam sind für die Gründung eines unabhängigen Palästinenserstaates. Bennett gilt dagegen als Galionsfigur der Siedler. «Die Regierung könnte unter Druck geraten, wenn rechtsorientierte Organisationen für Unruhe sorgen», meint der Politikwissenschaftler.

Im Fall einer neuen Konfrontation mit der im Gazastreifen herrschenden Hamas sieht Rynhold weniger Sprengpotenzial für das neue Bündnis. Die jüdischen Parteien seien sich über das Vorgehen gegen die militanten Islamisten grundsätzlich einig. Und der Vorsitzende der konservativ-islamischen Raam-Partei, Mansur Abbas, habe bereits gezeigt, «dass er unglaublich mutig und widerstandsfähig ist, als er sich der Koalition angeschlossen hat – trotz dessen, was gerade in Gaza passiert ist».

Abbas' Entscheidung wird als Schritt zu mehr Integration der arabischen Minderheit eingestuft, die 20 Prozent der neun Millionen Israelis ausmacht. Teil der Koalitionsvereinbarungen sind auch Investitionen von umgerechnet mehr als 13 Milliarden Euro, verteilt über zehn Jahre, die der arabischen Gesellschaft zugute kommen sollen. Ausserdem sollen drei Beduinendörfer ohne offiziellen Status in der Negev-Wüste legalisiert werden.

Die strengreligiösen jüdischen Parteien, bislang Teil fast jeder Regierung, blieben in der Opposition. Sie fürchten um grössere Mengen staatliches Geld, das in ihre Bildungseinrichtungen fliesst. Rynhold rechnet deshalb damit, dass sie sich um eine Vereinbarung mit der neuen Regierung bemühen, sollte diese die ersten Monate überstehen. «Die Koalition will binnen 100 Tagen den Haushalt verabschieden. Die Ultraorthodoxen brauchen das Geld. Entweder sie gehen in die Regierung oder sie unterstützen sie im Rahmen eines Deals von aussen.»

Rynhold sieht insgesamt mehr Chancen für ein Überleben der Koalition als für ihr Scheitern. Ganz abschreiben will er Netanjahu aber noch nicht. «Er ist Israels geschicktester Politiker», sagt der Politikwissenschaftler. Dass der bisherige Ministerpräsident nach einer Abwahl ein Comeback schafft, sei nicht ausgeschlossen.