US-WaffengewaltWer sich in der Tür irrt, muss um sein Leben fürchten
Von Jan-Niklas Jäger
20.4.2023
Drei Fälle, in denen auf junge Menschen aufgrund eines Irrtums geschossen worden ist, befeuern die Debatte über Amerikas Waffenkultur erneut an. Auch ein umstrittenes Notwehrgesetz spielt eine Rolle.
Von Jan-Niklas Jäger
20.04.2023, 18:34
Von Jan-Niklas Jäger
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Gleich dreimal wurden jüngst Amerikaner*innen Opfer von Schusswaffengewalt, weil sie sich in der Adresse oder in der Tür geirrt hatten.
In manchen US-Staaten werden Schützen, die vorgeblich ihr eigenes Grundstück oder ihr Auto verteidigen, durch sogenannte «Stand your Ground»-Gesetze gedeckt.
Nicht-weisse Bürger*innen sind deutlich häufiger Opfer solcher vermeintlicher Notwehr-Attacken.
Es ist ein gewöhnlicher Dienstag vergangene Woche in Kansas City: Der 16-jährige Ralph Yarl macht sich auf den Weg, um seine beiden Zwillingsbrüder abzuholen, die einen Freund besucht haben. Yarl irrt sich in der Adresse und klingelt stattdessen bei einem 84-jährigen Mann namens Andrew Lester.
Ohne ein Wort zu sagen, schiesst Lester dem schwarzen Teenager in den Kopf. Danach gibt er einen zweiten Schuss ab. Yarl erleidet ein Schädelhirntrauma, überlebt aber. Laut seiner Familie befindet er sich auf dem Weg der Besserung.
Beim Wenden erschossen
Die 20-jährige Kaylin Gillis befindet sich am vergangenen Samstag in einer abgelegenen Gegend des Bundesstaats New York mit Freund*innen auf dem Weg zu einer Party. Die Gruppe fährt mit ihrem Wagen in eine Einfahrt. Als sie merken, dass sie vor dem falschen Haus stehen, legen sie den Rückwärtsgang ein.
Da kommt Hausbesitzer Kevin Monahan, 65, aus dem Haus. Von seiner Veranda aus schiesst er zweimal auf den Wagen. Eine Kugel trifft Gillis am Hals. Da es in dem Gebiet keinen Handyempfang gibt, kann erst kurze Zeit später Hilfe gerufen werden. Versuche, Gillis wiederzubeleben, scheitern.
Schüsse auf dem Parkplatz
In der Nacht von vergangenem Dienstag auf Mittwoch kehrt eine Gruppe von Cheerleadern von einer Probe in der texanischen Hauptstadt Austin zurück. Die vier jungen Frauen nutzen den Parkplatz eines Geschäfts als Treffpunkt, von dem aus sie dann gemeinsam zur Probe fahren.
Als Heather Roth dort wieder in ihr Auto steigen will, öffnet sie stattdessen die Tür eines ähnlich aussehenden Wagens. Als sie einen Mann, den 25-jährigen Pedro Tello Rodriguez Jr., auf dem Beifahrersitz entdeckt, schliesst sie die Tür irritiert und setzt sich wieder in den Wagen ihrer Freundin Payton Washington.
Rodriguez steigt aus. Als Roth ihr Fenster herunterkurbelt, um den Irrtum zu erklären, eröffnet er das Feuer. Roth erleidet einen Streifschuss, Washington wird im Rücken und in einem Bein getroffen. Mehrere Organe werden verletzt. Washington hat überlebt und liegt derzeit in einem Spital. Zwei weitere Freundinnen sitzen in dem Wagen, bleiben aber unverletzt.
Hautfarbe könnte eine Rolle gespielt haben
Die auffällige Gemeinsamkeit dieser drei Fälle ist, dass harmlose menschliche Irrtümer zu Waffengewalt geführt haben. Keines der Opfer stellte zu irgendeinem Zeitpunkt eine Bedrohung für den jeweiligen Schützen dar.
In Ralph Yarls Fall könnte die Hautfarbe des 16-Jährigen eine Rolle gespielt haben. Der 84-jährige Schütze Andrew Lester ist weiss. Staatsanwalt Zachary Thompson betonte, der Fall habe eine solche Komponente. In der Anklageschrift wird sie jedoch nicht erwähnt.
«Wir verstehen, wie frustrierend das ist, aber ich kann Ihnen versichern, dass das Strafjustizsystem funktioniert und weiterhin funktionieren wird», so Thompson in einer Pressekonferenz am vergangenen Montag.
«Pflicht zum Rückzug» wird ausser Kraft gesetzt
Die gerichtlichen Auseinandersetzungen aller drei Fälle werden allerdings die Frage aufwerfen, ob und inwiefern das Gesetz die Schiessereien gefördert hat – und ob die Taten der Schützen nicht sogar vom Gesetz gedeckt sind.
Die Rede ist vom sogenannten «Stand your ground»-Gesetz. Nach diesem haben Amerikaner*innen das Recht, tödliche Gewalt anzuwenden, wenn sie Opfer eines rechtswidrigen Angriffs zu drohen werden. In 38 US-Staaten sind solche Gesetze, deren Details zwischen den Staaten variieren, in Kraft. Sie sichern das Recht zu töten, sobald man glaubt, sich in schwerer Gefahr zu befinden – auch dann, wenn eine Deeskalation der Situation möglich gewesen wäre.
Eigentlich gilt nach amerikanischem Recht die «Pflicht zum Rückzug». Gemäss dieser darf eine Person, wann immer es möglich ist, die Situation durch einen Rückzug zu entschärfen, auch dann keine tödliche Gewalt anwenden, wenn sie von jemandem attackiert wird. In Staaten, die den «Stand your ground»-Grundsatz in Gesetzen festgeschrieben haben, ist diese Pflicht ausser Kraft gesetzt.
«Stand your ground» erhöht Anzahl der Tötungsdelikte
Das erste solche Gesetz trat 2005 in Florida in Kraft. Die Zahl der Staaten, die sich Florida seitdem anschlossen, wächst stetig. Allein in den letzten 11 Jahren sind 14 neue Staaten hinzugekommen. Dabei gibt es Umfragen, nach denen die Unterstützung solcher Gesetze in der Bevölkerung rückläufig ist.
Im vergangenen Jahr kam eine Studie zu dem Schluss, dass «Stand your ground»-Gesetze in etwa 700 Tötungsdelikten pro Jahr eine Rolle spielen. Nicht-Weisse sind dabei häufiger als Opfer betroffen.
US-Präsident Joe Biden sieht indes die amerikanischen Waffengesetze in der Schuld und erneuerte seine Forderung, halbautomatische Schusswaffen zu verbieten. Sämtliche seiner Anstrengungen, ein solches Gebot zu verabschieden, sind bislang erfolglos geblieben.