Amerikas Waffen Einst sollten sie die Bürger schützen, nun bedrohen sie das ganze Volk

Von Jan-Niklas Jäger

26.11.2022

Joe Biden möchte halbautomatische Schusswaffen verbieten. Dabei muss er gegen eine Waffenkultur ankämpfen, die bis zur Gründung der USA zurückreicht. (Symbolbild)
Joe Biden möchte halbautomatische Schusswaffen verbieten. Dabei muss er gegen eine Waffenkultur ankämpfen, die bis zur Gründung der USA zurückreicht. (Symbolbild)
Bild: Jim Lo Scalzo/EPA/dpa

Nach den jüngsten Massenmorden in den USA nimmt Joe Biden einen neuen Anlauf, Waffenbesitz stärker zu regulieren. Wieso haben Waffen in Privatbesitz dort einen so hohen Stellenwert? Eine Spurensuche.

Von Jan-Niklas Jäger

Nachdem die Thanksgiving-Woche in den USA durch mehrere Massenschiessereien überschattet wurde, hat sich Präsident Joe Biden erneut dafür ausgesprochen, halbautomatische Waffen zu verbieten. Dass diese so leicht zu erwerben seien, sei «einfach nur krank», so Biden. «Das hat keinen sozialen Mehrwert. Es gibt keinen Grund dafür, ausser die Profite der Waffenhersteller.»

Dann wiederholte der Präsident die Ankündigung einer Massnahme, die er bereits im Wahlkampf 2020 angekündigt hatte: das Verbot von halbautomatischen Schusswaffen. Im Juli hatte das Repräsentantenhaus ein solches Verbot verabschiedet.

Eine Bestätigung durch den Senat steht noch aus, ist aber sehr unwahrscheinlich: Zehn republikanische Senator*innen müssten sich auf die Seite von Bidens Demokraten stellen, um ein sicheres Durchkommen des Gesetzes zu ermöglichen.

Verabschiedung eines Verbots unwahrscheinlich

Weil das Repräsentantenhaus nach den Zwischenwahlen Anfang dieses Monats ab Januar in republikanischer Hand sein wird, möchte Biden das Verbot bis dahin verabschiedet haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass das gelingen wird, ist jedoch gering.

Leise Hoffnung macht einzig die Tatsache, dass abgewählte oder nicht mehr angetretene Mitglieder des Kongresses in der Zeit zwischen Wahlen und dem Beginn einer neuen Legislaturperiode öfter dazu bereit sind, unabhängig von innerparteilichem Druck oder der Angst vor Stimmverlusten abzustimmen.

Nur Clinton hatte Erfolg

Versuche, Waffenbesitz in den USA stärker zu regulieren, gab es viele, doch die meisten scheiterten. So auch Barack Obamas Kompromissvorschlag von 2013, der nach dem Massaker an der Sandy-Hook-Primarschule in Connecticut intensivere Prüfungen von potentiellen Waffenkäufer*innen vorsah.

Auch dieses Vorhaben scheiterte im Senat: Zu den Nein-Stimmen der Republikaner gesellten sich auch einige Demokraten aus Staaten mit waffenfreundlicheren Gesetzen.

Erfolg hatte hingegen Bill Clinton. Unter dessen Regierung gelang 1994 die Verabschiedung eines Gesetzes, das genau das tat, was Joe Biden jetzt vorhat: Halbautomatische Schusswaffen zu verbieten. Das Verbot lief jedoch 2004 aus und wurde unter dem Republikaner George W. Bush nicht erneuert. 2019 kam eine Studie zu dem Ergebnis, dass die Anzahl der Toten durch Schiessereien sich zwischen 1994 und 2004 drastisch reduziert hatte.

Recht auf Verteidigung vor der Regierung

Gerade in Europa sorgen die liberalen Waffengesetze der USA für Ratlosigkeit. Dass eine demokratische Nation Waffenbesitz so sehr vereinfacht, sehen viele als Widerspruch. Dabei fusst die amerikanische Waffenkultur eben genau auf dem demokratischen Gedanken.

Als der zweite Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung 1791 hinzugefügt wurde – also der Paragraph, der das Recht auf Waffenbesitz garantiert –, war das, im historischen Kontext gesehen, ein äusserst fortschrittlicher Zug: Dass eine Regierung ihrer eigenen Bevölkerung Waffenbesitz erlaubte und damit auf das eigene Machtmonopol verzichtete, war im damaligen, noch von zahlreichen Königreichen geprägten Europa grösstenteils undenkbar.

So spottete auch der Gründungsvater und spätere vierte US-Präsident James Madison, die europäischen Länder hätten «Angst, ihrer Bevölkerung Waffen anzuvertrauen». Der zweite Zusatzartikel hingegen sollte es der Bevölkerung ermöglichen, sich im Ernstfall gegen die Tyrannei der eigenen Regierung zu wehren.

Der ambivalente Blick der Geschichte

Auch der schwarze Bürgerrechtler Malcolm X berief sich in den 1960ern auf diese Logik, als er sich für das Recht auf Waffenbesitz aussprach. Denn Waffen würden es Afroamerikaner*innen ermöglichen, sich gegen die willkürliche Gewalt der weissen Rassist*innen, von denen sich einige in den Reihen der Polizei und der Regierung befanden, zu wehren.

Die Geschichte gibt ihm einerseits recht: Nach dem Verbot der Sklaverei durch Abraham Lincolns Emanzipationsproklamation von 1863 konfiszierten ehemalige Sklavenbesitzer die Waffen der schwarzen Bevölkerung aus Angst vor Racheakten. Noch heute gibt es schwarze Bürgergruppen, die sich für den Erhalt des zweiten Verfassungszusatzes einsetzen, obwohl Afroamerikaner*innen mit einer grossen Mehrheit demokratisch wählen.

Allerdings hatte das Recht auf Waffenbesitz es den Sklaventreibern vor 1863 deutlich erleichtert, Gewalt auf ihre Sklaven auszuüben. Der Grundgedanke von zivilem Waffenbesitz als Schutz vor Unterdrückung statt als Instrument zur Unterdrückung stellte sich, rückblickend betrachtet, bereits hier als absurd heraus.

Milizen statt Polizei?

Dass es die auf Unabhängigkeit der Bundesstaaten von der Bundesregierung pochenden Republikaner sind, denen so viel am Waffenbesitz liegt, ergibt auch historisch gesehen Sinn: Dem Verfassungszusatz zufolge sollten sich regionale, «gut organisierte Milizen» bilden, um dem US-Militär bei Machtmissbrauch Paroli bieten zu können.

Das erinnert an die «Defund the police»-Bestrebungen linker Aktivist*innen im Zuge der Proteste nach der Ermordung George Floyds 2020. Sie forderten, der Polizei die Mittel zu entziehen und die Gesetzeshütung Bürgermilizen zu überlassen. Eine Forderung, die heutige Republikaner jedoch heftig kritisieren.

Recht auf Verteidigung vor Eindringlingen

Denn heutzutage argumentieren Republikaner anders. Das liegt auch darin begründet, dass Persönlichkeitsrechte in der Geschichte der USA politisch immer wichtiger wurden. Vor allem zu Zeiten des Kalten Krieges standen die USA für die Freiheit des Einzelnen, während Politik, die sich am Kollektiv orientierte, als kommunistisch verschrien war. Diese Rhetorik ist noch heute geläufig.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts verschob sich der Fokus in der Waffendebatte von bewaffneten Bürgermilizen zu Einzelpersonen, die etwa Gewehre besitzen, um ihre Familien vor Eindringlingen zu schützen. Die Kombination aus Individualisierung der politischen Kultur und Glorifizierung von Waffenbesitz führte zum Erstarken einer mächtigen Waffen-Lobby, repräsentiert von der National Rifle Association (NRA).

Der demokratische Präsident Franklin D. Roosevelt hatte 1934 auf Mordserien durch Kriminelle noch mit dem ersten Waffenbesitz einschränkenden Gesetz der US-Geschichte reagiert. Doch spätestens mit der Präsidentschaft des republikanischen NRA-Mitglieds Ronald Reagan hatte sich die umgekehrte Sichtweise etabliert: Vor Kriminellen schützt man sich am besten mit eigener Feuerkraft. Auf dieses Bild stützt sich eine lukrative Industrie mit einer mächtigen Lobby und starkem Rückhalt in der Bevölkerung.

Ein hoher Preis

Die Existenz einer mächtigen Waffenindustrie in einem Land, das Exzessen des kapitalistischen Systems wenig entgegensetzt, sorgte für eine rasche Verbreitung von Schusswaffen in der Bevölkerung. Ein Teufelskreis: Mehr Waffen im Umlauf bedeuten mehr Kriminalität. Aus Angst vor der Kriminalität werden wiederum mehr Waffen gekauft, und das bedeutet für die Waffenindustrie: mehr Profit.

James Madisons Spott über die Angst vor dem Bild einer bewaffneten Bevölkerung hat einen unangenehmen Beigeschmack bekommen: Die Bevölkerung ist bewaffnet und hat gleichzeitig Angst vor Waffen aus den eigenen Reihen – und oft zusätzlich vor denen der Polizei.

Angesichts der zahlreichen Massaker fällt es heute vielen schwer, sich auf die vermeintlich veralteten Ideale des Zweiten Zusatzes der Verfassung zu berufen. Allein in diesem Jahr sind 600 Amerikaner*innen in von Zivilist*innen verursachten Massenschiessereien umgekommen. Ein hoher Preis für ein Ideal, das aus einer Zeit stammt, als halbautomatische Schusswaffen noch nicht einmal erfunden waren.