Lagebild UkraineArtem verliert ein Bein – und kämpft sich zurück in den Graben
Von Philipp Dahm
17.9.2023
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22.08.2023
Im Lagebild geht es für einmal nicht um Veränderungen im Frontverlauf, sondern um vier Episoden: «Einblick in den Schützengraben», «Tarnen, täuschen, tricksen», «Analyse der Bundeswehr» und «F-16 und ATACMS».
Von Philipp Dahm
17.09.2023, 08:00
17.09.2023, 08:12
Philipp Dahm
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Ein Video gibt Einblick in einen Schützengraben, in dem ein einbeiniger Ukrainer eine Mörser-Kompanie führt.
Die ukrainische Armee perfektioniert Attrappen, die gegnerische Drohnen und Raketen täuschen. Auch Technik kommt zum Einsatz.
Wie geht's im Herbst weiter? Der Leiter des Lagezentrums Ukraine der deutschen Bundeswehr analysiert die allgemeine Lage.
Prognose: Die ersten F-16-Pilot*innen könnten ihre Ausbildung noch vor Jahresende abschliessen.
Die USA stehen angeblich kurz vor der Lieferung von ATACMS-Langstrecken-Raketen – darum sind sie so wichtig.
Wie es in den Schützengräben auf ukrainischer Seite zu- und hergeht, zeigt ein sehenswerter Clip von «Radio Free Europe/Radio Liberty»: Er stellt uns Artem Kholodkevych vor, den Kommandeur einer Mörser-Kompanie, der im Kampf gegen die Russen ein Bein verloren hat. Das Angebot einer Versetzung in die Verwaltung lehnte er ab.
«Ich habe mich daran gewöhnt», sagt der Ukrainer über seine Prothese. «Ich fühle mich gut, wenn ich damit laufe.» Wenn er sie abnehme, fehle ihm sogar etwas. Sein Handicap nimmt der 32-Jährige mit Humor: «Sie nennen mich Pirat und wollen mir einen Papageien kaufen», erzählt er über seine Kameraden. «Das ist okay.» Und wenn sie ihn fragen, wie es seinem Bein gehe, sage er: «Friert nicht, fühlt sich nicht nass an, juckt nicht.»
Der Ukrainer erlaubt dem Zuschauer einen Einblick in den Alltag seiner Einheit, während er mit seiner Prothese behände durch den Schützengraben schlängelt. «Sollten Soldaten mal keine Gräben graben, sind Hanteln immer nützlich», erklärt Artem Kholodkevych die Mucki-Bude im Schützengraben, die mit Holzstämmen abgedeckt ist.
Immerhin müssen die Männer ihre schweren Mörser auch heben können. Tiefe, sichere Gräben seien essenziell, erklärt er – angesichts der Tatsache, dass sich beide Seiten permanent mit Artillerie beschiessen. Auch seine Einheit feuere mindestens einmal pro Stunde, um dem Gegner «den Appetit zu nehmen».
Toscha, der Kompanie-Hund, ist nicht nur für die Moral wichtig: «Ich weiss seit 2014 aus Erfahrung, dass Tiere es eine halbe Minute früher als wir spüren, wenn es Beschuss gibt», erläutert Kholodkevych.
Tarnen, täuschen, tricksen
Wenn eine russische Lancet-Drohne, die rund 35'000 Dollar kostet, einen ukrainischen BM-21-Raketenwerfer oder ein Buk-Flugabwehrsystem trifft, die um ein Vielfaches teurer sind, rechnet sich der Kamikaze-Einsatz für Moskau. Doch wenn sich diese Ziele als billige, aufblasbare Täuschkörper entpuppen, wird der Spiess umgedreht.
Die Ukrainer perfektionieren offenbar den Bau solcher Pseudo-Waffen. Das Portfolio reicht von einfacheren Modellen ...
Ukrainian decoys continue to get better and better, seen here, an incredibly realistic Spoon Rest D (P-18) radar decoy, sporting a fully rotating array.
... bis zu jenen Exemplaren, die sogar mit Metall versehen werden, um generischen Sensoren etwas vorzumachen. Auch Hitzequellen oder Funk wird eingesetzt, um die Täuschung zu perfektionieren, weiss die «Kyiv Post».
«Der Feind ist nicht dumm», sagt dazu der Sprecher der ukrainischen Firma Metinvest, die Täuschkörper baut. «Wir müssen uns anpassen: Wir schauen immer nach etwas Neuem, was wir hinzufügen können.»
CNN:
Russian troops spent hundreds of missiles and UAVs to destroy dummies.
The range of dummies are expanding and among them there are, in particular, D-20 and M777 howitzers, air defense systems and radars.
Wer Christian Freuding in zivil sehen würde, käme wohl nicht zwangsläufig darauf, dass der grosse, hagere Deutsche mit der ruhigen, eher hohen Stimme, ein Doktor der Politikwissenschaften, auch ein Generalmajor des Heeres der Bundeswehr und Leiter des Planungs- und Führungsstabs ist.
Und: Der 52-Jährige ist auch noch Leiter des Lagezentrums Ukraine. In dieser Funktion analysiert Freuding, der gerade erst in Kiew war, den aktuellen Kriegsverlauf. Er habe dort eine «ungeheure Entschlossenheit» gespürt, sagt er – «gleichzeitig auch eine tiefe Müdigkeit und Erschöpfung. Nicht mehr die Leichtigkeit, die ich vor einem Jahr spürte. Die sich aus der Hoffnung speiste, dass der Krieg bald zu Ende gehen könnte».
Läuft die Gegenoffensive zu langsam voran? Das «Narrativ, die ukrainischen Streitkräfte seien nicht erfolgreich», verwirft Freuding: Kiew sei es «über eineinhalb Jahre» gelungen, «die Front über mehrere hundert Kilometer an allen Stellen stabil zu halten». Die ukrainische Armee habe neue Grossverbände aufstellen, aus- und umrüsten und integrieren können. «Dafür würden wir in Friedenszeiten vermutlich Jahre brauchen.»
Nun komme auch noch der Einbruch in die russischen Verteidigungslinien im Süden hinzu, lobt Freuding: «Das ist gar nicht hoch genug einzuschätzen.» Problematisch sei eher die «zu hohe Erwartungshaltung», die «völlig übertrieben war». Kiew stehe zudem vor der Herausforderung, auf dem Feld eine Überzahl von 3:1 oder 5:1 zu erzielen, die Voraussetzung für eine erfolgreiche Offensive sei.
Wie geht es im Herbst weiter?
Bemerkbar mache sich auch «das Fehlen von Fertigkeiten»: Dazu gehöre die Luftnahunterstützung oder eine «begleitende Flugabwehr» für die Front-Einheiten. Nicht zuletzt erschwere die «taktisch gut ausgebaute» Verteidigung der Russen, die «Gelände-verstärkend vorgenommen worden sei», eine bremsende Rolle in dieser Gegenoffensive. Das Räumen der Minen unter Feindfeuer in einem Gelände, «das kaum Möglichkeiten zur gedeckten Annäherung» biete, sei ein Teil von Moskaus Verteidigung.
As Ukraine’s counteroffensive makes progress, Russian forces are bolstering defensive lines constructed earlier in the year.
For example, a new line of dragon’s teeth was recently added to existing Russian fortifications near Romanivske (Zaporizhzhia oblast). pic.twitter.com/pFPeZI1pey
Bisher habe die Ukraine in der Gegenoffensive eine Fläche zurückerobert, deren Umfang 20 Prozent des Stadtgebiets von Berlin entspreche. Das klinge nach wenig, gesteht Freuding. Doch dass man das unter diesen Umständen überhaupt erreicht habe, werte er als einen militärischen Erfolg, der sich eben nicht bloss durch Quadratmeterzahlen ausdrücke. Einen «Stellungskrieg» will der Deutsche nicht erkennen.
Wie geht es im Herbst weiter? «Die Witterungsbedingungen werden sich natürlich verändern», weiss der Generalmajor. Das habe unterschiedliche Auswirkungen: Nach Einschätzung der Bundeswehr werde die Front im Norden davon stärker beeinflusst als der Süden. Eine «operative Pause» der Kriegsparteien sei deswegen aber nicht zu erwarten. «Es wird weitergehen, aber in unterschiedlicher Intensität.»
F-16 und ATACMS
Die Luftnahunterstützung meint Feuer-Unterstützung der Bodentruppen durch Helikopter und Jets. Bevor Kiew die F-16 erhält, ist die nur eingeschränkt verfügbar: Die Radargeräte der sowjetischen Modelle im ukrainischen Arsenal können mit der moderneren russischen Ausrüstung nicht mithalten.
Doch lange muss Wolodymyr Selenskyj offenbar nicht mehr warten: Noch vor Ende des Jahres könnte das entsprechende Personal ausgebildet sein, glaubt Generalleutnant Michael Loh von der U.S. Air National Guard. Auch in Dänemark werden übrigens nicht nur Piloten, sondern auch Pilotinnen geschult.
«Sie werden einen Unterschied machen», meint auch Freuding. Russland habe zwar nicht die «Luftherrschaft» über der Ukraine, wohl aber eine «Dominanz» in einigen Frontabschnitten. Das könne die F-16 ändern. «Es ist ein erheblicher Zugewinn.» Eine «Wunderwaffe», die «den Krieg entscheiden» werde, sei der US-Jet aber auch nicht.
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08.02.2023
Bei den konventionellen Waffen sind Kampfjets die vorletzte «Rote Linie», die Wladimir Putin gezogen hat. Bleiben noch die ATACMS-Langstrecken-Raketen für das System Himars – doch auch diese Grenze will Joe Biden nun angeblich überschreiten. Sie haben eine Reichweite von 300 Kilometern.
Aber ist das etwas Besonderes, wenn Marschflugkörper Storm Shadow oder Scalp bis zu 300 oder sogar 550 Kilometer weit fliegen können? Vor allem, wenn ihr Sprengkopf nur 250 statt 450 Kilogramm hat? Der Vorteil der ATACMS liegt in der Verfügbarkeit: Die Marschflugkörper können nur von Su-24-Bombern abgefeuert werden, deren Zahl ebenso begrenzt ist wie die Zahl der Storm Shadow und Scalp, die London und Paris geliefert haben.
Eine ATACMS kostet zudem angeblich nur 1,5 statt 3,2 Millionen Dollar pro Stück und gewinnt viel zerstörerische Kraft, weil sie mit über Mach 4 ins Ziel einschlägt. Für den Kreml wären das keine guten Aussichten: Ein Dutzend dieser Raketen an einer Kertsch-Brücke abzufangen, wäre eine Herausforderung.