Jahrescharts War Popmusik früher wirklich so viel besser?

Lukas Ruettimann

11.1.2020

Billy Ray Cyrus und Lil Nas X bei ihrem Auftritt bei den BET Awards 2019 in Los Angeles.
Billy Ray Cyrus und Lil Nas X bei ihrem Auftritt bei den BET Awards 2019 in Los Angeles.
Bild: Paras Griffin/Getty Images

Die meistverkauften Titel des abgelaufenen Jahres sind da. Sie sind einmal mehr Wasser auf die Mühlen derer, die früher alles besser fanden.

Immer im Januar kommt es wieder, das Grauen. Nicht wegen dem lausigen Wetter und dem leeren Portemonnaie (das vielleicht auch). Sondern weil zu Jahresbeginn jeweils die Liste der meistverkauften, gestreamten und/oder gespielten Songs – wie das erhoben wird, ist mittlerweile eine Wissenschaft für sich – veröffentlicht wird. Jedenfalls kann man auch dieses Jahr wieder ins Zweifeln kommen. Oder war Popmusik schon immer so langweilig, austauschbar und schlecht wie heuer?

Zugegeben, es gab schon schlimmere Hits als die Soundtrack-Schnulze «Shallow» von Lady Gaga und Bradley Cooper, die in den Jahrescharts 2019 auf Platz eins steht. Aber Songs wie «Old Town Road» (Lil Nas X), «Dance Monkey» (Tones and I,) oder «Con Calma» (Daddy Yankee & Snow), die man ebenfalls in den Top Ten findet?

Ist das wirklich die Musik, die Herr und Frau Schweizer in den vergangenen zwölf Monaten glücklich gemacht hat? Gibt es keine bessere Popmusik? Mit Hits wie vor 20, 30 oder 40 Jahren, die heute noch so beliebt wie eh und je zu sein scheinen? Zu David Bowie, Depeche Mode oder Men Without Hats wird jedenfalls heute noch gefeiert.

Songs immer langweiliger

Freilich ist es so, dass sich solche Fragen nur alte Säcke stellen. Wer jung ist, hört meist einfach Musik und hinterfragt die Qualität nicht weiter. Der Soundtrack zum Leben halt. Tatsächlich gibt es wissenschaftliche Untersuchungen, die belegen, dass später kein noch so geniales Meisterwerk an die Musik herankommt, die man mit 14, 16 oder 18 Jahren hört. Das hat nicht nur mit der stürmischen Intensität der ersten Liebe, dem ersten Job oder dem ersten Joint zu tun. Der Sound verankert sich in dieser Zeit im sich entwickelnden Hirn – und macht uns alle zu Nostalgikern auf Lebzeit.

Dass Popmusik früher spannender und weniger austauschbar klang, hat aber auch mit den Songs selbst zu tun. Denn dass heute alles gleich klingt, ist nicht nur das Empfinden von nostalgischen Popfans. Schuld daran hat auch das Streamen von Musik über Dienste wie Spotify oder Deezer, wie eine Studie von 2017 ergeben hat.

Um herauszufinden, wie sich Musik in den letzten Jahrzehnten verändert hat, analysierte der Musikwissenschaftler Hubert Gauvin die Top-10-Hits der letzten Jahre. Er verglich diese mit den Hits von früher und stellte dabei fest, dass sich der Takt seither um acht Prozent beschleunigt hat. Zudem sind die Songs heute kürzer, es gibt generell weniger Wörter, Titel und Refrain kommen früher, und Intros sind nahezu ausgestorben.

Kampf mit anderen Medien

Das sind alles Folgen davon, dass die Aufmerksamkeitsrate bei heutigen Konsumenten weniger hoch ist als früher. Titel mit langen Intros etwa werden auf Spotify meist übersprungen. Die permanente Verfügbarkeit selbst von exotischsten Bands und Songs trägt ausserdem dazu bei, dass Musik heute nicht mehr den gleichen Stellenwert besitzt wie einst. Musste man früher für ein spezielles Album eine ganze Reihe von Plattenläden durchforsten, ist heute auf einen Klick alles da. Praktisch zwar, aber austauschbar.

Kein Wunder steht Musik bei den heutigen Kids in einem harten Konkurrenzkampf mit anderen Medien. Videogames, Netflix-Shows, YouTube, soziale Medien – all das gab es zu Zeiten von Abba oder Duran Duran noch nicht oder nur limitiert. Dabei wird heutzutage zwar deutlich mehr Musik konsumiert als je zuvor in der Geschichte; aber sie ist den Konsumenten – sprich: den heutigen Kids – auch so egal wie noch keiner Generation.

PC killt den Rock-Groove

Das alles führt dazu, dass Musik heute schneller, billiger, liebloser und pragmatischer produziert wird. In die Hand spielt den Machern die Technik. Tatsächlich haben der PC und moderne Programme wie ProTools den Sound von Pop- und Rockmusik in den letzten Jahren drastisch verändert.

Leider nicht zum Guten. Denn dass heute jeder Song etwa drei Mal so laut produziert wird, um den Hörgewohnheiten via Smartphone gerecht zu werden, ist das eine. Aber dass heute selbst fähige Sängerinnen und Sänger das Stimmprogramm AutoTune benutzen, ist schon bedenklich. Dazu kommt, dass PC-Programme den natürlichen Groove von handwerklich gespielter Musik bei vielen Acts kaputt gemacht haben.

Der populäre Musik-Vlogger Rick Beato erklärt dazu in einem Video, wie moderne Aufnahmetechnik die Rockmusik von heute verändert hat. Denn selbst bei höchst präzisen Bands wie The Police, AC/DC oder Rage Against the Machine gibt es immer kleinere Timing-Schwankungen. Diese sorgen dafür, dass die Musik lebendig klingt. Weil heute aber oft ein Part nur einmal eingespielt und dann per Copy/Paste im PC aneinandergereiht wird, klingen viele moderne Bands seelenlos.

Kein Wunder also, findet man in den Jahrescharts kaum Rockbands. Und wir reden hier nicht von Heavy Metal, sondern von jenem Sound, der sich elegant zwischen Pop und Rock bewegt und früher die Massen begeistert hat.

Dass er das auch heute noch könnte, zeigen die Jahrescharts der Alben: Dort dominiert – auch dank dem Biopic «Bohemian Rhapsody» – mit gleich zwei Best-Of-Alben die britische Pop/Rock-Legende Queen. Es besteht also doch noch Hoffnung.

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