Stau am Berg «Es gibt schon vor der Parkuhr eine 100-Meter-Schlange»

Von Bruno Bötschi

17.7.2020

Drohen in diesem Sommer Staus auf Schweizer Wanderwegen?
Drohen in diesem Sommer Staus auf Schweizer Wanderwegen?
Bild: Keystone

Die Ferienstaus am Gotthard halten sich wegen der Coronakrise in Grenzen – gestürmt werden Ziele in der Nähe. Zwei Experten über das Gedränge in den Schweizer Bergen, aggressive Ausflügler und ob Frauen und Männer unterschiedlich wandern.

Frau Fink und Herr Widmer, Sie sind beide seit Jahren in den Schweizer Bergen unterwegs. Was denken Sie, wird es in den nächsten Wochen und Monaten regelmässig zu Staus auf den Wanderwegen kommen?

Fink: Auf manchen Wanderwegen wird man bestimmt ganz oft «zi» – so klingt Grüezi beim zehnten Mal – sagen müssen. Das zeichnet sich bereits jetzt ab. Aus Flims habe ich gehört, dass es wuselt vor lauter Touristen und sich Schlangen bei der Bergstation bilden, die länger sind als im Winter. Touristiker beklagen sich über die vielen Wildcamper, weil die Campingplätze und Hotels heillos ausgebucht sind. Doch wie immer konzentriert sich das Gewusel auf die touristisch stark genutzten Zentren.

Zur Person: Caroline Fink

Caroline Fink ist Fotografin, Autorin und Filmemacherin. Selbst Bergsteigerin mit einem Flair für Reisen abseits üblicher Pfade, greift sie in ihren Arbeiten Themen auf, die ihr während Streifzügen in den Alpen, den Bergen der Welt und auf Reisen begegnen. Denn von einem ist sie überzeugt: Nur was einen selbst bewegt, hat die Kraft, andere zu inspirieren.

Widmer: Jetzt macht es noch mehr Spass, sich die abseitigen Pfade zu suchen. Ich sehe es wie Caroline, das Gros der Leute bewegt sich auf denselben Pfaden, es sind so circa ein, zwei, drei Routen pro Region. Im Alpstein zum Beispiel wollen alle den Höhenweg vom Hohen Kasten zur Saxer Lücke machen. Oder mit dem Picknickkorb zum Seealpsee aufsteigen.

Wo waren Sie zuletzt unterwegs?

Fink: Ich war diese Woche im Unterwallis auf einer Klettertour. Ich war der einzige Gast auf dem sonst leeren Camping zuhinterst im Val d'Hérémence. Und anschliessend trafen wir 48 Stunden lang keinen einzigen Menschen. Auch das gibt es.

Widmer: Kürzlich war ich in Wasserauen, dem Talort im Alpstein. Dort gab es schon vor der Parkuhr eine 100-Meter-Schlange. Wer die Karte studiert, findet leicht andere Wege. Im Alpstein gibt es zum Beispiel den Lütispitz. Dort hat es in der Regel kaum Leute.

Zur Person: Thomas Widmer

Thomas Widmer ist studierter Islamwissenschaftler und Arabist. Nach einem Intermezzo als IKRK-Kriegsdolmetscher wurde er Journalist. Viele Jahre war er Redaktor beim «Tages-Anzeiger», seit 2017 ist er für die «Schweizer Familie» als Reporter unterwegs. Für den Echtzeit Verlag hat er mehrere Bücher über das Wandern verfasst. Auf Widmer wandert weiter bloggt er täglich übers Wandern.

Abseitige Pfade tönt spannend, aber auch etwas gefährlich.

Widmer: Wanderautobahnen können durchaus auch ihre Tücken haben, nehmen wir nur die Route von der Holzegg auf den Grossen Mythen. Auf ihr kann es bei gutem Wetter an Wochenenden zu Staus kommen. Rutscht man dort aus, dann gute Nacht. Der Grosse Mythen ist das Matterhorn der Bergwanderer. Abseitige Pfade sind nicht zwingend gefährlich. Einzig muss man wissen: Hat man einen Unfall, kommt nicht so schnell einer, der hilft.

Und wo befindet sich diesen Sommer das «Gotthardtunnel der Wanderinnen und Wanderer», Frau Fink?

Fink: Ich würde mal sagen: Überall dort, wo bereits eine Hundertmeterschlange vor der Parkuhr steht. Nein, Spass beiseite. Wenn ich als Staumelderin eine Prognose abgeben müsste, würde ich auf die gängigen Wanderwege auf der Rigi, der Schynigen Platte oder dem Mythen tippen. Oeschinensee, Fronalpstock, Pilatus und Creux du Van werden sicher auch auf den vorderen Rängen zu stehen kommen.

Caroline Fink: «Aus Flims habe ich gehört, dass es wuselt vor lauter Touristen und sich Schlangen bei der Bergstation bilden, die länger sind als im Winter.»
Caroline Fink: «Aus Flims habe ich gehört, dass es wuselt vor lauter Touristen und sich Schlangen bei der Bergstation bilden, die länger sind als im Winter.»
Bild: Marco Volken

Zurzeit sind viele Neo-Wandernde unterwegs sein: Was möchten Sie diesen unbedingt ans Herz legen?

Widmer: In Noiraigue, wenn man ins Val de Travers hineinblickt, hat man links den Creux du Van. Dort wollen alle hin. Wer rechts in den Hang biegt, steigt auf nach Les Tablettes. Dort hat es wenig Volk.

Kurz gesagt: Einmal rechts statt links gehen.

Widmer: Ja. Was ich auch liebe: die Fessis-Seelein. Das sind die blauen Augen des Glarnerlandes auf gut 2'100 Metern. Hoch über Ennenda. Aber Vorsicht: Wer einen Herzfehler hat, sollte dort nicht ins Wasser. Es ist eiskalt, es killt einen fast. Nur schon das Fussbad ist eine Herausforderung.

Auf was sollten Wanderneulinge zudem noch besonders achten?

Fink: Den Respekt. Das Wissen, dass in den Bergen ziemlich schnell klein werden kann, wer in der Stadt noch so ein toller Hecht respektive eine coole Schnalle ist. Die Natur ist grösser als du. Immer. Backe am Anfang kleine Brötchen. Schau, wie weit du wandern kannst, ohne Blasen zu kriegen. Wie viele Höhenmeter du schaffst mit einem Liter Getränk im Gepäck. Gehe langsam und regelmässig. Ein alter Bergführer sagte mir, als ich eine ganz junge Bergsteigerin war: Du musst immer so langsam gehen, dass du dir vorstellen kannst, dieses Tempo problemlos zwölf Stunden lang zu gehen. Daran denke ich heute manchmal noch.

Thomas Widmer: «Jetzt macht es noch mehr Spass, sich die abseitigen Pfade zu suchen.»
Thomas Widmer: «Jetzt macht es noch mehr Spass, sich die abseitigen Pfade zu suchen.»
Bild: Schweizer Familie/Daniel Ammann

Und was soll man beim Wandern immer dabeihaben?

Fink: Eine Taschenlampe für Notfälle. Eine kleine Apotheke mit einem Druckverband. Einen wärmeren Pulli oder Jacke und dazu eine Wetterschutzjacke. Blasenpflaster. Eine Karte, die man vorher in Papier ausdruckt oder auf dem Handy runterlädt, damit man sie auch ohne Empfang anschauen kann. Genügend Akku im Telefon oder eine Power Bank. Einen Müesliriegel und Wasser. Sonnencreme, Sonnenhut und Sonnenbrille. Einen Wetterbericht. Dann kann schon mal nicht allzu viel schiefgehen.

Widmer: Notvorrat zum Essen, bei mir reist immer eine Packung Studentenfutter mit. Genug Wasser. Wirklich genug, im Sommer hat man den Durst eines ausgewachsenen Ochsen. Eine Jacke, die gegen Wind und Regen schützt. Ersatzschnürsenkel. Und ein gutes Buch, damit man auf der Heimreise oder in der Hütte nicht verblödet. Am besten epische Kost. Zum Beispiel Tolstois «Krieg und Frieden».

Und was ist mit Wanderstöcken?

Widmer: Jein. Wenn man sie inflationär braucht, leidet das natürliche Gleichgewichtsgefühl. Ich nehme sie meist mit, brauche sie aber nur, wenn es wirklich bolzengrad hinabgeht und ich meine 57-jährigen Knie ein wenig schonen will.

Fink: Ich halte es genau wie Thomas. Ich brauchte sie lange Jahre kaum je, um nicht den Gleichgewichtssinn zu schwächen. Bei mir reichen nun 42 Jahre, dass meine Knie dankbar dafür sind. Gelenke sind wie Scharniere und sie haben ein Verfalldatum, das genetisch etwas programmiert ist. Insofern ist Entlastung im Abstieg ab einem gewissen Alter sicher nicht falsch.



GPS oder Wanderkarte?

Widmer: Beides. Mit dem GPS navigiere ich auf dem Smartphone. Und auf der Wanderkarte schaue ich, wie die Berge am Horizont heissen. Sie gibt mir die grosse Idee. Und das GPS hilft mir im Kleinen, ich bin ein schlechter Kartenleser.

Fink: Auch beides. Die Wanderkarte lässt sich ganz einfach ausdrucken über map.geo.admin.ch. Wenn nur Handy, dann vorher runterladen und zwei Geräte oder eine Power-Bank plus Ladegerät mitnehmen. In den meisten Hütten kann man heutzutage auch das Handy laden.

«Verstopfte Strassen, viele Wanderer, aggressive Ausflügler in Glarus» – In den Medien war zu lesen, dass es den Gästen in Schweizer Ausflugsorten oft am nötigen Respekt fehlt.

Fink: Ich treffe in der Regel meist nette Leute in den Bergen. Aber vielleicht klingt so aus dem Wald, wie man reinruft?

Widmer: Wer einen steilen Pfad unter die Füsse nimmt, dem kommen jedenfalls alle Aggressionen abhanden. Er hat zu tun mit Keuchen, Schwitzen, Steigen.

Liegt in diesem Sommer mehr Abfall auf den Wanderwegen als in den Jahren zuvor?

Fink: Mir wäre das nicht aufgefallen, aber vielleicht bin ich dazu am falschen Ort unterwegs.

Widmer: Ich sehe selten Abfall auf Wanderwegen. Wo die Natur einigermassen intakt ist, schüchtert sie den Menschen ein. Er empfindet Respekt.

Caroline Fink: «Ich treffe in der Regel meist nette Leute in den Bergen. Aber vielleicht klingt so aus dem Wald, wie man reinruft?»
Caroline Fink: «Ich treffe in der Regel meist nette Leute in den Bergen. Aber vielleicht klingt so aus dem Wald, wie man reinruft?»
Bild: Marco Volken

Wandern hatte lange Zeit ein bünzliges Image. Seit einiger Zeit, also schon vor der Coronapandemie, gehen immer mehr Menschen in die Berge. Woran könnte das liegen?

Fink: Weil wir als Menschen Teil der Natur sind und es sich schlichtweg gut anfühlt, in der Natur zu sein.

Widmer: Es gibt beim Wandern durch die Jahrzehnte eine Wellenbewegung. Mal ist es in, mal out. Aber nie ist es so sehr out, dass es verschwindet. Der heutige Boom hat aus meiner Sicht viel mit der Beschleunigung der Gesellschaft zu tun. In den Bergen entkommt man ihr eher. Man kann besser abschalten. Und man bekommt den Raum zugestanden, der sonst fehlt. Platz und Musse sind die neuen Luxusgüter.

Darf man während einer Wanderung singen?

Fink: Ja natürlich. Am besten Bella Ciao. Oder La Montanara. Die Tessiner haben – wenn wir schon beim Thema sind – eine wunderbare Tradition des Singens in den Bergen. Mit Tessiner Freunden unterwegs wird fast auf jedem Gipfel gesungen. Wobei wir uns auch schon überlegt haben, ob wir deshalb immer auf einsamen Gipfeln sind. Stören Dich singende Wanderer, Thomas?

Widmer: Singende Wanderer stören mich überhaupt nicht. Gleichzeitig wäre es mir peinlich, beim Singen ertappt zu werden. Ich habe starke Peinlichkeitsängste.

Wie lange muss ich wandern, bis ich einkehren darf?

Widmer: Eine Minute. Danach darf man immer einkehren. Die Frage ist, wann es von der Dramaturgie am besten passt. Mittlerweile finde ich: ganz am Ende. Dann kann man sich voll gehen lassen.

Fink: Ich habe einen recht fixen Ablauf: Nach 15 Minuten eine Schicht ausziehen, wenn mir zu warm wird. Nach einer Stunde etwas trinken. Nach zwei Stunden etwas essen und trinken. Ich mag lange Pausen nicht, weil ich dann aus dem Trott falle. Aber das ist sehr individuell.



Wie wurde das Wandern zu Ihrer Leidenschaft?

Widmer: Ich studierte in Bern Arabisch und Islamwissenschaften. Damals begann ich zu wandern. Ich glaube, ich brauchte einen Gegenpol zum intellektuellen Tun.

Fink: Um ehrlich zu sein: Meine Leidenschaft ist das Klettern und Bergsteigen. Das Wandern kam da automatisch mit, weil technische Touren ja selten im Tal beginnen. Im Sommer empfinde ich das Wandern eher als Bürde. Anders hingegen im Herbst: Irgendwann merkte ich, dass es wunderbar ist, mit leichtem Tagesrucksack zu Fuss durch die einsamen Berge zu ziehen. So fand ich quasi den Weg zum Wandern über das Bergsteigen.

Herr Widmer, wandern Sie «nur» oder klettern Sie auch?

Widmer: Dieses Helm-Pickel-Karabiner-Wesen war mir immer fremd. Ich gebe aber zu, dass ich oft ein wenig neidisch werde, wenn in der Bahn Richtung hinteres Glarnerland einer zusteigt, der ein Seil um die Brust geschlungen hat. Ich fühle mich dann minderwertig. Unheroisch.

Frau Fink, vielleicht sollten Sie Herr Widmer mal auf eine einfache Klettertour mitnehmen.

Fink: Wir könnten Synergien nutzen. Ich suche die Klettertour aus und er den schönsten Zustieg. Das wäre dann alpiner Duathlon mit bester Aussicht.

Widmer: So gern ich mit Caroline loszöge, aber die Wanderung wäre dann nur ein Zudienen. Sie muss rund sein, aufgehen, mit gutem Essen, toller Natur, aber auch beispielsweise einer alten Kirche.

Thomas Widmer: «Singende Wanderer stören mich überhaupt nicht. Gleichzeitig wäre es mir peinlich, beim Singen ertappt zu werden. Ich habe starke Peinlichkeitsängste.»
Thomas Widmer: «Singende Wanderer stören mich überhaupt nicht. Gleichzeitig wäre es mir peinlich, beim Singen ertappt zu werden. Ich habe starke Peinlichkeitsängste.»
Bild: Schweizer Familie/Daniel Ammann

Wer so oft wandert und klettert wie Sie, hat sicher schon gefährliche Situationen in den Bergen erlebt.

Fink: Ich kam zweimal in ein Gewitter, das Stunden früher aufzog, als prognostiziert. Die Luft knisterte, die Haare stellten sich auf. Das waren sehr, sehr furchteinflössende Momente. Einmal stolperte ich in einem Gletschervorfeld und schnitt mir das Handgelenk an einem Stein mit einem sauberen, tiefen Schnitt auf. Das war beängstigend, weil ich allein unterwegs war und keinen Empfang hatte, um zu alarmieren. Fällt mir ein: Wenn Sie keinen Empfang haben und Hilfe brauchen, wählen Sie 112. Diese europäische Notfallnummer geht automatisch auf Roaming. Wenn es also irgendein Netz in der Gegend gibt, wird sie dieses nutzen. So konnte ich damals alarmieren.

Widmer: Ich verlief mich schon. Das allein ist noch nicht gefährlich. Heikel wird es, wenn man sich selber unter Druck setzt, improvisieren will, denkt, es werde jetzt bald Abend. Mein Rat ist: Hinsetzen und gut überlegen, wie ich wieder auf sicheren Boden komme. Döreschnufe!

Wandern Frauen und Männer unterschiedlich?

Fink: Wandern tun sie gleich. Aber unterwegs reden sie über andere Dinge. Frauen reden zum Beispiel über Männer. Und Männer? Das grosse Geheimnis. Verrate es mir bitte, Thomas.

Widmer: Männer reden untereinander nicht gross. Sie spüren sich ohne Worte. Wenn jetzt aber, sagen wir, zwei Männer und zwei Frauen zusammen unterwegs sind, denken die Männer bloss eines: Was reden die Frauen wohl über uns?

Das Interview wurde als schriftliches Ping-Pong geführt.

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