Menschen, die nie erwerbslos waren, stellen sich Arbeitslosigkeit oft als «endlose Ferien» vor. Ein grosses Missverständnis. Denn wer spricht schon gern darüber, dass er am Morgen die 87. Absage auf eine Stellenbewerbung bekommen hat?
Eine ältere Dame erzählte mir vor einiger Zeit, ein schöner Aspekt des Alters sei, dass sich nun in gewisser Weise alle in der gleichen Situation befänden. Nach der Pensionierung sei es nicht mehr so wichtig, ob jemand früher Chefärztin oder Schreiner war. Jetzt zähle vor allem der Mensch. Allerdings falle es in ihrem Umfeld vor allem Männern, die sich früher sehr stark über ihren Beruf definiert haben, nicht ganz leicht, sich an die neue Situation zu gewöhnen.
Der Psychiater Christian Peter Dogs bietet Seminare für gestresste Top-Manager an und berichtete kürzlich im «Tages-Anzeiger» über ähnliche Erfahrungen: «In meinen Seminaren fordere ich die Teilnehmer jeweils auf, sich in der Runde vorzustellen, ohne ihre berufliche Funktion zu erwähnen. Das überfordert sie alle, weil kaum einer sagen kann, was er ist, ausser dem, was er tut.»
Man braucht kein Top-Manager zu sein, um bei dieser Aufgabe ins Straucheln zu kommen. Wenn man neue Menschen kennenlernt, ist oft eine der ersten Fragen: Was machst du? Damit ist selten gemeint, ob das Gegenüber gern Handorgel spielt oder häkelt. Nennt nämlich jemand eine kreative Tätigkeit wie beispielsweise Schreiben oder Musizieren, wird gleich nachgefragt: Und davon kann man leben? Denn eigentlich wollen die Leute wissen: Womit verdienst du dein Geld?
87. Absage auf eine Stellenbewerbung
Der Beruf spielt im zwischenmenschlichen Miteinander sowohl für das eigene Selbstverständnis als auch für die Wahrnehmung durch andere eine wichtige Rolle. Welcher Arbeit jemand nachgeht, vermittelt dem Gegenüber eine Vielzahl an Informationen, aus der wir weitere Schlüsse ziehen können. Zum Beispiel, ob die Person eher viel oder weniger Geld verdient, oder ob sie eine einflussreiche Position innehat. Nicht zuletzt sagt der Beruf oft auch etwas über die eigenen Interessen aus und ist deshalb ein wichtiger Anknüpfungspunkt für ein vertiefendes Gespräch.
Menschen im erwerbsfähigen Alter, die kurz oder längerfristig keiner bezahlten Arbeit nachgehen können, ist die Frage nach der beruflichen Tätigkeit deshalb meist unangenehm. Wie stellt man sich vor, wie sieht einen das Gegenüber, wenn man auf diese Frage keine einfache Antwort geben kann?
Hinter einer Erwerbslosigkeit steht oft eine sehr persönliche Geschichte, beispielsweise gesundheitliche Probleme. Das sind keine Themen für einen lockeren Smalltalk mit jemandem, den man gerade erst kennengelernt hat. Die meisten Menschen sprechen zudem – auch mit Freunden und Bekannten – lieber über ein spannendes Projekt, an dem sie gerade arbeiten, als darüber, dass sie am Morgen die 87. Absage auf eine Stellenbewerbung aus dem Briefkasten geholt haben.
Sich aus Scham zurückziehen
Viele Menschen, die keine Arbeit haben, haben das Gefühl, es sei ihre Schuld – auch wenn sie gar nichts dafür können, weil ihre Kündigung beispielsweise aus betriebsbedingten Gründen erfolgte. Aus Scham ziehen sie sich zurück und fürchten sich richtiggehend davor, beim Einkaufen unverhofft einem Bekannten zu begegnen, der fragen könnte, was man denn jetzt so mache. Schliesslich könnten sie ausgerechnet auf jenen Kollegen treffen, der sich immer so abfällig über Leute äussert, die es sich seiner Meinung nach «in der sozialen Hängematte gemütlich machen».
Menschen, die selbst nie erwerbslos waren, stellen sich Arbeitslosigkeit oft eher als «endlose Ferien» vor statt als einen für die Betroffenen unangenehmen Zustand. Doch vermutlich würden gerade diejenigen, die laut über Menschen wettern, die es sich in eben jener vielbeschworenen «sozialen Hängematte gemütlich machen», nach wenigen Wochen ohne Job und die damit verbundene Anerkennung selbst ziemlich kleinlaut werden.
Kurt, der Lastwagenfahrer, wäre dann plötzlich einfach nur noch Kurt. Ohne Lastwagen. Und Johannes, der Medizinprofessor, wäre ohne Titel und die E-Mail-Adresse eines renommierten Instituts nur noch johannes196@emailfuerdich.ch.
Marie Baumann dokumentiert unter ivinfo.wordpress.com seit 2009 das politische Geschehen rund um die Invalidenversicherung.
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Coco – der Engel aus Bern, den die Welt nicht verstand
Coco – der Engel aus Bern, den die Welt nicht verstand
Performance-Künstlerin, selbstbekennende transsexuelle Anarchistin, Macho-Frau, seelisch Heimatlose, Model, Lieblings-Zielscheibe der Schweizer Boulevardpresse – Coco.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Olivier G. Fatton begegnete Coco im November 1989 zum ersten Mal. Dieser «lichte und doch so schwermütige Engel» faszinierte den Fotografen vom ersten Moment an.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Bei einem Kaffee in einem Berner Schwulenlokal schliessen sie einen fotografischen Vertrag: Coco posiert für ihn und dafür dokumentiert Fatton ihre Geschlechtsanpassung.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Aus dem Pakt wurde eine Liebesbeziehung, in deren Verlauf Fatton zahlreiche Aufnahmen von Coco machte. Intime Porträts, ...
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
... inszenierte Modefotografie, zuhause, unterwegs, in Clubs und in den Bergen zeigen die zahlreichen Facetten der schillernden Coco.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Und immer wieder diese grossen, melancholischen Augen. Ihre Augen seien ihr zweiter Mund geworden, sagte Coco einmal.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Und weil ihre tausendseitige Autobiographie von Dieben gestohlen wurde, erzählen uns diese Augen vom Leben einer Kameliendame des 20. Jahrhunderts – im Bildband «Coco», der dieser Tag erschienen ist.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
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